Lesbos & eine widerständige Haltung in der Krise

von Peter Oehler

Das griechische Leben und die Schönheit der Natur (schon immer) plus die Touristen versus die Geflüchteten (verstärkt seit 2015): Vielleicht kann man Lesbos auf diese vier Punkte – Antipoden – reduzieren? Und das ist das Umfeld, in das das Bergdorf Fília eingebettet ist. Obwohl es, da es so etwas am Rande liegt, weder von den Touristen, noch von den Geflüchteten viel mit- bzw. abbekommt. Wobei es von dem “Touristenkuchen” schon gerne etwas mehr abbekommen würde als nur die Brotkrumen.

Lesbos als Sehnsuchtsort 2020

Ein Roadmovie und die griechische Innerlichkeit

Tony Gatlif, ein algerischer Regisseur, hat bereits 2017 Lesbos bzw. ganz Griechenland, einem Land in der Krise – damals, ein Denkmal gesetzt: “Djam”. So heißt die junge Griechin, die zusammen mit einer jungen Französin durchs krisengeplagte Griechenland (anfangs auch Istanbul und die Türkei) reist: Ein Roadmovie. Nur die Eingangssequenz und der Schlussteil spielen auf Lesbos. Und doch ist es ein starkes Plädoyer für diese Insel. Der Film zeigt nicht nur die Schönheit der Natur auf Lesbos, insbesondere den phantastischen Blick übers Wasser auf das nahegelegene türkische Festland, sowie das griechische Leben, insbesondere das Feiern, Trinken und Singen der Griechen in den Tavernen und anderswo. Sondern er problematisiert auch die aktuelle Lage, dieses Spannungsfeld zwischen den Touristen und den Geflüchteten auf Lesbos.

Djam ist von ihrem Onkel (eigentlich ihrem Stiefvater) mit dem Auftrag nach Istanbul geschickt worden, für das Schiff, mit dem bis zu achtzig Touristen um die Insel herum geschippert werden – also die Einnahmequelle der ganzen Familie -, eine Pleuelstange als Ersatzteil zu besorgen. Sie kommt nach ihrer Odyssee eigentlich viel zu spät zurück. Aber jemand meint nur lakonisch zu ihr, dass ja sowieso keine Touristen mehr kämen. Statt uns Bilder von im Norden von Lesbos ankommenden Geflüchteten zu präsentieren, zeigt uns Gatlif lieber ein “Abfallprodukt”: Bilder von dem “Friedhof der Rettungswesten”, auf dem Zigtausende von Schwimmwesten lagern bzw. verrotten, plus zerschnittene Schlauchboote und kaputte Schiffe, die dort einfach in der Landschaft herumstehen.

Friedhof der Schwimmwesten
Müllhalde für Schwimmwesten und Schiffe. Foto: P. Oehler

Bei meiner ersten Reise nach Lesbos im Sommer 2016 habe ich eine knappe Woche benötigt, um durch Interviews und Befragungen von Einheimischen die nötigen Hinweise zu bekommen, um diesen “Friedhof der Rettungswesten” zu finden. Es ist die alte Müllhalde von Molivos, und sie liegt ziemlich abseits, etwas hinein und hinauf in die Berge, entlang einer kleinen Schotterstraße gelangt man dort hin. Da, wo kein Tourist je hinkommen wird.

Die Flüchtenden kommen von der nur acht, neun Kilometer entfernten Türkei mit ihren Booten nach Lesbos. Wenn sie sich auf den im Wasser tanzenden Schiffen übers Mittelmeer bewegen, ist der Grenzzaun zwischen der Türkei und Griechenland eben auf ihren Schiffen. Das Wasser ist nicht so klar wie Ouzo, aber es ist eindeutig griechisch: das ägäische Meer. Landen sie dann auf Lesbos, stellen sie in ihrer Masse eine Kraft dar, derer sie sich selten bewusst sind: Würden sie gemeinsam und solidarisch auftreten, könnten sie vielleicht schneller ihren Weg fortsetzen nach Westeuropa, ihrem eigentlichen Ziel.

Berge von zurückgelassenen Schwimmwesten. Foto: P. Oehler
“Moria” – Sinnbild der verfehlten Flüchtlingspolitik Europas

Einen gewissen traurigen Höhepunkt hat die Situation der Geflüchteten auf Lesbos Anfang September 2020 erreicht, als das Camp Moria fast vollständig abgebrannte, und knapp 13.000 Insassen obdachlos geworden sind. Die Situation im Lager eskalierte, nachdem bekannt wurde, dass es dort Corona Infizierte gibt und das Gerücht kursierte, dass das ganze Lager mit einem stabilen Zaun umschlossen werden sollte, sodass es niemand verlassen können würde. Aber man sollte nicht vergessen, dass die Zustände in diesem Lager schon seit Beginn im Jahr 2016 untragbar waren, und sich von Jahr zu Jahr verschlimmerten.

Zurückgelassenes Boot, auf dem über 100 Geflüchtete nach Lesbos kamen. Foto: P. Oehler
Flüchtlingshilfe versus Politik

Im Sommer 2016 sowie bei meiner zweiten Reise nach Lesbos im Sommer 2018 lag der Fokus meines Interesses bei der Flüchtlingshilfe. Ich wollte dabei die Zusammenhänge und Strukturen, der daran beteiligten NGOs kennenlernen, sowie als Volunteer tatkräftig mitarbeiten. Schön und ruhig gelegen der langgestreckte Strand von Eftaloú an der Nordküste von Lesbos. Hier kamen im Herbst 2015 die meisten Flüchtlingsboote an. Im nahe gelegenen Ort Eftaloú lebt das englische Ehepaar Philippa und Eric Kempson. Sie betreiben dort einen “Olive Wood Workshop” und engagieren sich schon jahrzehntelang in der Flüchtlingshilfe. Bei meinem zweiten Besuch erfuhr ich, dass ihnen ihr Anwesen gekündigt worden sei. Höhepunkt eines lange schon schwelenden Konflikts mit den Einheimischen, die das Engagement der Kempsons nicht schätzen. Sie betreiben außerdem in der Nähe von Mytilini das NGO-unabhängige “The Hope Project”, drei Lagerhallen, wo sie Geflüchtete mit Kleidung und Essen versorgen sowie ihnen kulturelle Betätigungen wie Zeichnen, Malen oder Musizieren anbieten. Im Sommer 2018 habe ich dort in der Kleiderkammer gearbeitet.

An der Nordküste weiter östlich liegt die kleine Hafenstadt Skála Sykaminéas. Im Sommer 2016 besuchte ich dort das Lighthouse Camp (betrieben von der NGO Lighthouse Relief). Das Betätigungsfeld erstreckt sich ostwärts bis zum Leuchtturm Kórakas. Hier habe ich beim “Beach Cleaning” geholfen, und das “Landing” eines Flüchtlingsbootes miterlebt. Im Sommer 2018 gab es dieses Camp nicht mehr, es musste auf Druck des griechischen Staates im Juli 2017 geräumt werden. Aber Mitarbeiter und Volunteers von Lighthouse Relief waren immer noch vor Ort. Sie unterstützen weiterhin die ankommenden Geflüchteten. Diese kommen zunächst in die oberhalb von Skála Sykaminéas gelegene “Stage Two” (betrieben vom UNHCR). An der Straße von Skala Sykaminéas nach Mandamados gibt es beim Abzweig nach Klio eine alte Käsefabrik, die mittlerweile von der NGO Borderline benutzt wird und bei Bedarf ebenfalls zur kurzzeitigen Unterbringung von Geflüchteten dient. Aber bereits nach kurzer Zeit werden alle Geflüchteten ins Camp Moria bei Mytilini gebracht.

Camp Moria kein Übergangslager

Camp Moria, ein ehemaliges Militärlager, wird als sogenannter Hotspot auf Lesbos betrieben. Bereits im Sommer 2016 war es überfüllt gewesen: 3.000 statt 1.500 Menschen. Damals passten aber noch alle Menschen in den von hohen Mauern, mit Stacheldraht gesicherten Militärkomplex hinein. Im Sommer 2018 waren bereits 8.500 Geflüchtete im Camp Moria. Ein Großteil der Geflüchteten brachten sich in Zelten etc. in den Olivenhainen außerhalb des Militärkomplexes, dem “wilden” Bereich, notdürftig unter. Mittlerweile sollen es 14.000 Menschen sein (Stand Sommer 2020, zeitweise waren hier sogar bis zu 20.000 Menschen untergebracht).

Camp Moria vor dem Brand 2020. Foto: P. Oehler

Bei meinem ersten Besuch von Moria kam ich auch in den “Genuss”, das Lager von innen zu besichtigen. Ich hatte trotz Verbots und etwas zu unvorsichtig Fotos vom Camp gemacht, und musste ein paar davon unter Polizeiaufsicht wieder löschen. Bei meinem zweiten Besuch konnte ich mich ungestört durch den “wilden” Bereich bewegen. Auch ergaben sich gute Gespräche mit freundlichen Lagerinsassen. Die Lebensumstände in diesem staatlichen Lager waren so katastrophal, dass man sagen könnte: Gut dass es weg ist.

NGO’s und Einheimische helfen

Es gibt andere Lager, von denen man das nicht behaupten kann. An der Ausfallstraße von Mytilini Richtung Norden liegt oberhalb von Lidl das von der Stadt Mytilini betriebene Camp Kara Tepe, das insbesondere Familien aufnimmt. Oder das Pikpa Camp, das sich in unmittelbarer Nähe des Flughafens befindet und besonders verletzliche Geflüchtete beherbergt, maximal 100 Personen. Im Sommer 2016 habe ich dort für ein paar Tage als Volunteer in der Schreinerei gearbeitet. Im Zentrum von Mytilini gibt es außerdem das Mosaik Support Center. Es wird von der NGO Lesvos Solidarity betrieben, die auch das Pikpa Camp betreibt. Es bietet Geflüchteten Sprachkurse und zwei Werkstätten an. Ganz in der Nähe von Kara Tepe befindet sich nicht nur “The Hope Project”, sondern auch “One Happy Family” (gegründet von einer Schweizer NGO), ein Gemeinschaftszentrum für Geflüchtete. Es beherbergt auch die größte Schule für Flüchtlingskinder auf ganz Lesbos.

Es gibt ein weiteres Projekt in Mytilini ganz anderer Art, das aber ebenfalls Hoffnung macht. Mitten im Zentrum haben vier Frauen, allesamt Geflüchtete, zusammen mit Leuten von NGOs und Einheimischen das Restaurant Nan gegründet. Diese Art der Selbsthilfe will die Menschen zusammenbringen, aber auch die Geflüchteten selbst in der Stadt Mytilini besser integrieren.

…und dann auch noch Corona

Eigentlich war geplant, dass ich im Sommer 2020 wieder nach Lesbos fahre. Aber als ich erfuhr, dass nicht nur die Einheimischen Ängste und Befürchtungen gegenüber Fremden haben, sie könnten das Coronavirus einschleppen, sondern auch die Lagerbewohner in Camp Moria, da bei diesen beengten Verhältnissen ein eingeschlepptes Coronavirus verheerend wäre, habe ich davon abgesehen. Es ist generell zu vermuten, dass Geflüchtete, aber auch NGOs sich sehr bedeckt halten gegenüber Außenstehenden. Auch wäre meine Art des Reisens, nämlich mittels Fernbussen, Zügen und Fähren (normalerweise in knapp drei Tagen von Frankfurt am Main nach Lesbos), noch zusätzlich erschwert worden: Die Fährverbindungen nicht wirklich buchbar, sowie die Aussicht, dass ich an der griechischen Grenze (wahrscheinlich Patras auf dem Peloponnes) einen oder eventuell zwei Coronatests sowie einen Zwangsstopp von 24 oder gar 48 Stunden auferlegt bekommen hätte.

Wie Krisen bewältigen?

Der Film “Djam” ist übrigens durchzogen mit vielen Tanz- und Musikszenen: alles Rembetiko. Das ist der vordergründige Teil: Rembetiko, diese subkulturelle Musik, entstanden in den Armenvierteln von Athen, Piräus und Thessaloniki in den 1920er Jahren. Aber der Film zielt auch und gerade auf den Hintergrund des Rembetiko ab, nämlich die Haltung, die dahintersteckt. Sie wird verkörpert durch die Rembeten, die Manges, im Film exemplarisch dargestellt durch Djam und ihren Onkel: Widerständig gegenüber dem Staat und der Gesellschaft, aber sich durch die vielen Widrigkeiten nicht die Freude am Leben nehmen lassen. Krass kommt das zum Ausdruck, als Djam auf den Grabstein ihres Großvaters, eines altgedienten Obristen, uriniert. Zu der perplexen jungen Französin meint sie ganz trocken: “Ich pisse auf alle, die Musik und Freiheit verbieten.” Aber was will uns der Film “Djam” mit auf den Weg geben? So wie die Griechen in der Krise die Kraft des Rembetiko nutzen (nicht alle, aber manche), um zu überleben, so sollte Europa diese Kraft nutzen, wenn es seine Grenzen öffnet. Stattdessen: Mit viel Geld der EU werden die Flüchtlingslager, die sogenannten Hotspots, ausgestattet, allen voran Moria auf Lesbos. Sie bieten den Geflüchteten aber weder Perspektive noch eine (neue) Heimat. Die Antwort darauf steht gesprüht auf einer Betonmauer am Rande des “Friedhofs der Rettungswesten”: “SHAME ON You EURoPE.”