von Ulrike Krasberg
Die Sammlung
Die Sammlung des „Museums Filia“ ist in den Räumen des alten Kontorhauses der Familie Karagiannopoulou untergebracht. Der größte Teil besteht aus dem Nachlass der Familie, die das Gebäude der Kirche vermachte mit vielen Dingen darin, die einst der Familie gehörten und lange Zeit in Truhen, Kisten und Schränken dort ausgelagert waren.
Darunter findet sich Kleidung der Zeit um 1900, Büchern, Reisesouveniers, Einrichtungsgegenständen wie Bildern, Mobiliar, Teppichen, die aus den Haushalten der Familienmitglieder aussortiert und im Haus ausgelagert wurden. Im Laufe der Zeit kamen aber auch Dinge dazu, die von Familien aus dem Dorf ins Museum gegeben wurden, weil sie nicht mehr gebraucht wurden und den Besitzern zu schade zum Wegwerfen erschienen – landwirtschaftliche Geräte, Küchenutensilien, Geschirr, Teppiche und Decken.
Außerdem gibt es eine Sammlung von sakralen Objekten, die in der Kirche eine Funktion im Gottesdienst hatten, wegen „Altersschwäche“ aber nicht mehr genutzt werden konnten und durch neue ersetzt werden mussten. Sakrale Gegenstände dieser Art können nicht einfach entsorgt werden und gelangten in die Sammlung im Sinne eines Aufbewahrungsorts. Darunter sind auch Drucke von Heiligenbildern aus Massenproduktionen, die gleichwohl als geweihte Ikonen ihren Platz in den Hausaltären ärmerer Familien hatten.
Der Mikrokosmos „Dorf“
All diese Objekte bilden den Mikrokosmos des Dorflebens der letzten hundert Jahre ab. Sowohl des Lebens der Familien, die für die damalige Zeit ihr Auskommen als Bauern und Viehzüchter, Handwerker, Seefahrer oder Händler hatten, als auch das der ausgesprochen wohlhabenden Familie Karagianopoulos. Einst war das Oberhaupt der Familie als Lehnsherr vom osmanischen Sultanat in Konstantinopel eingesetzt worden als Anerkennung für seine Verdienste bei der militärischen Eroberung der Insel. Ihm gehörte das ganze Land, das heute die Gemeinde Filia bildet, und als Archont/Dimogerontas (Lehnsherr und Ortsverwalter) lenkte er die Geschicke des Dorfes.
Obwohl die Menschen in allen Dörfer der Insel unter den selben wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen ihrer Zeit lebten, hatte jedes Dorf -und so auch Filia – einen von anderen Dörfern unterscheidbaren historisch gewachsenen Charakter. Zugleich verweisen viele der Sammlungsobjekte auf die Welt außerhalb des Dorfes, auf die technischen Errungenschaften der Zeit – Fotoapparate, Petroleumlampen, Petroleumöfen – aber auch auf die Entwicklungen der Mode (Damenkleider) und verdeutlichen die Unterschiede zwischen arm und reich, städtisch orientierter Oberschicht und bäuerlicher Dorfbewohner.
Die Sprache der Dinge im Heimatmuseum
Schön alt oder Müll?
Es scheint zufällig, dass nach 30 Jahren, in denen die Sammlung im Dornröschenschlaf unbeachtet in den Räumen des Museums lag, eine Gruppe Deutscher 2015 ins Dorf kam, der Pope sie durch das Museum führte und die Gruppe beschloss ihm beim Aufbau einer Ausstellung in den Museumsräumen zu helfen. Und doch passt dies Geschehen in eine Zeit, in der sich das Leben der Einwohner Filias stark verändert hat. Die traditionellen Arbeitsplätze in der Landwirtschaft sind immer weniger geworden, andere Arbeitsplätze gibt es mehr und mehr nur außerhalb des Dorfes, was die Einwohnerzahl des Dorfes schrumpfen lässt. Zugleich ist der Konsum in Form von Wohnungseinrichtungen, Mobilität (Autos), Ess- und Ernährungsgewohnheiten anspruchsvoller geworden und Amazon, Zalando und Co liefern ihre Produkte nun auch ins Dorf. Ein Beispiel, an dem diese Veränderungen deutlich werden ist die Entwicklung der Müllabfuhr. In den 1980er Jahren bestand sie noch aus einem Mann mit Esel, der den Müll der Haushalte in zwei Körbe auf dem Rücken des Esels einsammeln konnte. Mittlerweile besitzt die Gemeinde eine spezielle, vollautomatische Müllabfuhr in Form eines so großen Lastwagens, dass dieser nicht mehr durch die Gassen des Dorfs passt, weswegen die Mülltonnen der Gemeinde an der Peripherie des Dorfes aufgestellt werden müssen.
Konsum steht auch für den Status der Familien im Dorf, dem sich niemand entziehen kann. Der Gebrauchswert einzelner Güter verfällt immer schneller. „Halt, stopp!“ mag da mancher rufen, „die alten Sachen sind noch gut und sie sind schön! Schau nur die alten hölzernen Hoftore! Warum müssen die nun durch Metalltore vom Baumarkt ersetzt werden?“ Und dann werden Versuche unternommen das Holz dieser alten verwitterten Hoftore als Tischplatten für Gartentische weiter zu verwenden. (Vgl Hermann Lübbe: Der Fortschritt und das Museum 1982)
Ein Ding wird Semiophore
Es entsteht auch in Filia eine gewisse Wehmut nach der „guten, alten Zeit“. Und hier bekommt die Sammlung im Museum eine neue Funktion. Die Dinge dort sind sozusagen gerettet, dem Kreislauf des Erschaffens und Vergehens entzogen. Sie sind zu sogenannten Semiophoren geworden. Ein Begriff, den Krzysztof Pomian in „Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln“ (1998: 69) entwickelte. Damit bezeichnete er Dinge, die keinen Gebrauchswert mehr haben, gar als Abfall behandelt werden. Wenn sie in einem bestimmten Stadium ihrer Existenz als Museumsobjekt sozusagen eingefroren werden, dann repräsentieren sie plötzlich das nicht mehr Sichtbare der Vergangenheit, so etwas wie den Geist oder die Weltsicht ihrer Zeit als sie noch aktive Gebrauchsgegenstände waren.
Vertrautheit der Dinge im Museum
Für Besucher eines Heimatmuseums taucht bei der Betrachtung der Gegenstände diese unsichtbare Welt auf, vor dem inneren Auge, aber auch als Gefühl. Es entsteht eine als ganz persönlich empfundene Erinnerung, die sich mit einer bestimmten historisch realen Zeit verbindet. Diese so erlebbare Zugehörigkeit zu einer Zeit und einem Ort gibt Sicherheit: Hier sind meine Wurzeln, diese Dinge sind Teil meiner eigenen Geschichte! In der modernen Welt, die sich in einem immer schnelleren Rhythmus verändert, wird es schwieriger Vertrautheit mit Dingen herzustellen. Wenn Dinge aber Lebensbegleiter werden, bekommen sie Gebrauchspuren, werden dadurch authentisch. Aber wer hat noch einen Dachboden, auf dem das Hochzeitskleid der Mutter oder der Schaukelstuhl des Großvaters aufbewahrt wird? Diese Erinnerungsfunktion können Museen übernehmen.
Die Repräsentanz vergangener Lebenswelten ist auch für jüngere oder Fremde erfahrbar. Dass die Dinge bei jedem eine andere Sprache sprechen, andere Assoziationen hervorbringen, ist dabei unerheblich. Wenn es KuratorInnen gelingt, die Dinge so zueinander zu ordnen, dass aus ihnen heraus eine Atmosphäre entsteht, und Informationen über die Dinge – sparsam aber zielgerichtet – die Atmosphäre vertiefen können, dann können Einheimische wie Fremde, Junge wie Alte in einem Heimatmuseum in eine durchaus „verzaubernde“ Welt im Sinne Orhan Pamuks „Museum der Unschuld“ eintauchen.
Das Ausstellungskonzept
Herrenzimmer
Als die Gruppe begann ein Ausstellungskonzept zu erarbeiten, überlegten wir, welche Themenbereiche wir mit den vorhandenen Objekten darstellen könnten. Die beiden kleinen Räume boten sich an als „Herrenzimmer“ und „Damenzimmer“ mit Objekten der Familie Karagianopoulos. Das Herrenzimmer wird dominiert von einem großen, wandfüllenden Bücherschrank mit einer umfangreichen Bibliothek. Eine andere Wand bedecken stattliche, gerahmte Drucke von Bildern antiker Szenen (Gemälde des Malers Gavin Hamilton (1723 – 1798), Begründer der englischen „Neoklassik“ und bürgerlichen (Salon)-Malerei). Mit Postkarten von Fotomotiven aus der Zeit um 1900 auf der Insel, einer alten Militärjacke samt Gewehr gestalteten wir eine dritte Wand. Dazu kamen Fotoapparat und Zubehör und ein um 1900 moderner, üppig gestalteter Petroleumofen.
Damenzimmer
Die Gestaltung des „Damenzimmers“ ergab sich sozusagen von selbst: Die seidenen Roben und die mit Lochstickerei versehene Unterwäsche der Damen der Familie brauchten einen eigenen Raum. Sie wurden auf eigens aus der Inselhauptstadt herbei geschaffte Kleiderpuppen gezogen und zusammen in einem Raum aufgestellt. Sonnenschirme und Handtaschen kamen dazu und ein Boudoir war entstanden.
Der ehemalige Kontorraum
Viel Kopfzerbrechen bereitete uns die Gestaltung des „Großen Raums“. Er war einst eine Art Kontor, der repräsentative Geschäftsraum des Archonten gewesen mit acht großen Fenstern in drei Himmelsrichtungen. Die dort vorhandenen Vitrinen aus den 1970er Jahren – resopalbeschichtete Pressspanplatten in braun, die den Eindruck von, in der damaligen Zeit, modernen Küchenunterschränken hervorriefen – sollten entfernt werden um Platz für unsere Themenensembles zu schaffen. Aber der Pope verweigerte sich hartnäckig diesen Plänen. Die Vitrinen mussten bleiben. Schließlich kamen uns Orhan Pamuks Vitrinen in seinem „Museum der Unschuld“ in Istanbul als Ideengeber zur Hilfe. Jeden Vitrinenabschnitt gestalteten wir zu einem eigenen Thema, mit Objekten, die einzeln und dicht an dicht zusammen Geschichten erzählen konnten. Hier konnten wir Dinge zeigen, die die Dorfbewohner in die Sammlung gegeben hatten: Bestickte Pantoffeln, wie sie für den Bräutigam zum Gang ins Hochzeitszimmer von der Mutter der Braut gefertigt wurden, Ess- und Kochgeschirr aus den dörflichen Haushalten, Handarbeiten zur Verschönerung des Heims, gestickte Wandbilder, Ikonen und Objekte des Hausaltars.
Auch die vom Alter gezeichneten Objekte aus kirchlichem Bestand bekamen hier eigene Vitrinen. In einer Vitrine fand eine wahrscheinlich von einer Dorfbewohnerin „gebastelte“ Dornenkrone ihren Platz. Sie wurde aus einem Dornenzweig geflochten und mit Silberbronze und roter Farbe an den Dornenspitzen angemalt. Zusammen mit einer grob und etwas ungeschickt aus Holz geschnitzten Taube mit nur noch einem Flügel und einem sehr schlichten, verrosteten eisernen Kreuz strahlen diese Objekte eine Aura des Heiligen aus, die in ihrer Einfachheit mehr über die Bedeutung des Glaubens im Dorf vermitteln können als die großen professionell gestalteten Kirchen der Orthodoxie.
Der Flur
Die Wände des langen Flurs schließlich, der sich über die Hälfte des Hauses erstreckt, sind Themen vorbehalten, die sich auf die Geschichte der Familie Karagianopoulos, des Gebäudes und des Dorfes beziehen. Hier wird die Familie mit einem Stammbaum vorgestellt, der als Mobile gestaltet ist und vor der Wand hängt, an der einige wenige Familienfotos, die aus der Zeit Ende des 19. Jahrhunderts stammen, zu sehen sind. Die Familie wurde vermutlich schon im 18. Jahrhundert als Archonten/Dimogerontas (Lehnsherrn/Dorfvorsteher) vom Sultan in Konstantinopel eingesetzt. Dafür musste sie dem Sultan eine gewisse Summe an Steuern zahlen, auch um zu zeigen, dass sie bzw. das Familienoberhaupt die Belange des Dorfes finanziell unterstützen konnte. Andererseits mussten die Bauern, die seine Felder bewirtschafteten, ihm Steuern zahlen. Da im Osmanischen Reich der Handel nur mit dem Sultanat und nach festgesetzten Preisen stattfand (Lesbos musste vor allem Olivenöl nach Konstantinopel liefern), konnte die Familie Karagianopoulos ihren Reichtum erst erwirtschaften als im niedergehenden Osmanischen Reich der Handel freigestellt wurde. Giorgos Karagianopoulos setzte sich in seiner Zeit als Dimogerontas vor allem für die Schulbildung für Jungen und Mädchen ein. Er finanzierte sowohl die Schulgebäude als auch die Lehrer. Obwohl die Familie viel für die Bildung der Kinder des Dorfes tat, galten die Familienmitglieder der letzten Generation als außerordentlich geizig und waren im Dorf sehr unbeliebt. Dass die fünf Kinder des Evstratios Karagianopoulos kinderlos starben – weil sie selbst jung starben, keine Kinder bekommen konnten oder diese jung starben – dass damit also die Familie als solche ausgestorben ist, wird von manchen im Dorf als Fluch aufgrund ihrer Geizigkeit gesehen.
Das Gebäude als Teil der Ausstellung
Die Errichtung des Gebäudes wurde wahrscheinlich 1874 von der Familie Karagianopoulos in Auftrag gegeben und 1896 nochmals verändert. Im unteren Teil war ein Lebensmittelmarkt, Lagerraum und Büro. 1972 wurde das Haus von Evstratios G. Karagiannopoulos der Kirche geschenkt, die es seit dem in Besitz hat. Die Familie hat dies Haus nie als Wohnhaus benutzt. Nach dem Tod von Georgios Karagianopoulos 1922, dem Vater von Evstratios, wurde das Gebäude vermietet. Der neue Mieter richtete ein kleines Hotel mit Restaurant ein. Ebenerdig waren Küche und Gastraum untergebracht, oben drei Hotelzimmer, die Geschäftsreisenden zu Übernachtungen dienten. Im Zweiten Weltkrieg, während der deutschen Besatzung von 1941-44, wurde das Haus von den Deutschen beschlagnahmt. Während des Bürgerkriegs von 1945-49 diente es als Polizeistation mit Arrestzelle. Zu dieser Zeit war das Dorf mehrheitlich links, die örtliche Macht und das staatliche Militär aber waren rechts. In den Räumen wurde auch gefoltert.
Als das Obergeschoss in den 1970er Jahren als Museum eingerichtet wurde, ließ der damalige Pope Renovierungsarbeiten vornehmen, ohne in den vorhandenen Stil des Gebäudes wesentlich einzugreifen. Die Atmosphäre der Räume strahlt auch heute noch den etwas düster wirkenden Charm der Innenarchitektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus. So sind die Räume und Sammlungsobjekte wie ein Ensemble, ohne dass beide ursprünglich zueinander gehörten. Aber sie verstärken gegenseitig die Atmosphäre des Lebens in der damaligen Zeit.
Kommen und Gehen
Ein weiterer Bereich im Flur trägt den Titel „Kommen und Gehen“. Dort wird mit einer alten Seemannskiste, Souvenirs aus aller Welt und einer Weltkarte, auf der die Aufenthaltsorte von Menschen aus Filia eingezeichnet sind, gezeigt wie sehr das Dorf mit der Welt verbunden ist. Griechen als Händler und Seefahrer waren schon immer in aller Welt anzutreffen. Aber auch die Bewohner Filias als Bauern und Viehzüchter sind – soweit reicht das geschichtliche Gedächtnis im Dorf – schon seit Ende des 19. Jahrhunderts in alle Welt gewandert. In die USA, nach Venezuela, Kanada, Australien, Tasmanien und zu finden sind sie auch überall in Europa. Und sie kommen immer wieder zurück ins Dorf, zu Besuch oder um ihren Lebensabend hier zu verbringen. Auch die, die der Arbeit wegen ihr Leben in Athen oder Thessaloniki verbringen, haben noch ein Haus im Dorf und werden im Sommer wieder Einwohner Filias. Das bedeutet, dass die Familien ein enges Verwandtschaftsnetz über die Welt gespannt haben, dass die zurückgekehrten Familienmitglieder meist noch eine Sprache außer Griechisch sprechen und das diesem zurückgezogen wirkenden und scheinbar außerhalb der modernen Welt liegenden Bergdorf tatsächlich aber eine bemerkenswerte Weltoffenheit eigen ist.