Geräusch, Ton, Musik. Eine akustische Bestandsaufnahme in Filia

von Katrin Swoboda

Anfang April ist es noch sehr kalt in Fília. Die Straße und Plätze sind leer, erst am Ende der Woche, am Tag vor dem orthodoxen Ostern und mit zunehmender Wärme, werden Tische und Stühle nach draußen gestellt. Auch mehr Menschen, Familienangehörige, Besucher füllen die Straßen und verändern die akustischen Wahrnehmungen. Ich werde versuchen, von außen nach innen gehend, Geräusche, Töne und Musik, wie ich sie wahrgenommen und erklärt bekommen habe, zu beschreiben.

Gassen in Filia. 2015

GERÄUSCH, AUSSEN

Beim morgendlichen Gang durch die Gassen ist es zunächst verblüffend still. Nichts ist zu hören. Obwohl die Gassen eng sind, die Häuser dicht beieinander stehen, kann ich keine Stimmen, kein Radiogeräusch, keine Verkehrsmittel, Auto oder Motorrad, vernehmen – der erste Eindruck. Selbst auf dem relativ langen Weg von meiner Unterkunft zur zentralen Plateía – nichts. Einmal vielleicht, gegen Mittag, in der Ferne ein Flugzeug. Das ändert sich mit dem Wind. Er fällt von den Bergen ringsum und saust um die Ohren. Genau so schnell kann er auch wieder aufhören. Stille – Sausen – Stille.

Mit der Zeit werden meine Ohren spitzer. Ich höre die Hähne krähen, in den Gassen am Rande des Ortes, wo Hühner gehalten werden. Beim Spaziergang etwas außerhalb des Ortes ist, auch wenn man sie noch nicht sieht, das Blöken von Schafen und das Läuten ihrer Glöckchen zu vernehmen, ländliche Geräusche. Es wird die einzige akustische Begleitung sein, die am Karfreitag auf dem Friedhof, wo viele Menschen sich um die Gräber versammeln, zu hören ist.

Ein Hühnerhof. Foto: K. Swoboda, 2015
Friedhof an Karfreitag, 2015

Im Laufe der Tage werden für mich auch die Vogelstimmen deutlicher: zwitschernde Schwalben, tschilpende Spatzen, gurrende Tauben; Hunde hört man eher selten. Aber keine menschlichen Stimmen – noch nicht (von wegen laute temperamentvolle Südländer, wie wir es vielleicht aus Neapels engen Gassen noch im Ohr haben!). Tatsächlich fallen unsere in der Stille der Gassen auf: „Man hört euch überall, man weiß, dass ihr da seid“, teilt die Nachbarin unserer Kursleiterin mit. Es ist freundlich gemeint. Im Laufe der Woche sind dann doch

Motorgeräusche zu hören. Das Motorrad ist nicht zu sehen, aber irgendwo fährt es durch die engen Gassen. Wie auch jetzt ab und an ein Auto, die Familienmitglieder von woanders treffen ein.

TON, AUSSEN

Da, am Samstagabend, ein ganz lauter Ton (unter „Ton, Töne“ verstehe ich im Gegensatz zu „Geräusch“ einen bewusst erzeugten akustischen Reiz, der aber noch nicht Musik genannt werden kann). Dieser Ton kommt von der Kirchenglocke im Turm der zentral gelegenen Kirche. Sie ruft sehr laut und eindringlich zum Abendgottesdienst an diesem Samstag. Die ganze Woche wird durch ihren Klang strukturiert werden. Sie braucht die Lautsprecher, die neben ihr gelegentlich den Gesang aus der Kirche übertragen, eigentlich nicht. Ihr Schlag ist so laut, dass man als unerfahrener Gast zusammenzuckt, wird man in der Nähe des Glockenturms davon überrascht. Angeschlagen werden die Uhrzeiten ähnlich wie bei uns, zu den Gottesdiensten ist das Geläut, auch mit nur einer einzigen Glocke, recht ausführlich. An Karfreitag vor Ostern ertönt die Totenglocke von 12 bis 16 Uhr: eindringlich, fast unheimlich, beinahe jede Minute ein einziger Schlag, zwei Stunden lang!

Kirchturm mit Glocke. Foto: K. Swoboda, 2015

Weltliche Töne aber nehmen ebenfalls zu: ab Sonntag fahren täglich Verkaufswagen durch den Ort und rufen per Lautsprecher auf zum Kauf von Feuerholz, von Obst und Gemüse, vor allem aber auch von Fisch: Baccalau und Calmar. Je mehr Menschen zum Osterfest eintreffen oder aber auch je wärmer es wird, desto lauter wird es auch auf den Straßen. Eine Mutter schimpft mit ihrem Kind. Auf der kleinen Plateía spielen die Jungen Fußball mit viel Geschrei. Drei Mädchen sind ins Versteckspiel vertieft mit Abzählversen, ähnlich wie bei uns „…alles muss versteckt sein“. Und ganz besonders laute profane Töne, gemischt mit sakralen, sind am Ende der Osternachtsmesse zu hören: noch in die Psalmen hinein explodieren mit lautem Krachen die Feuerwerkskörper zur Auferstehung!

MUSIK, INNEN

In Menis Kafeneíon gibt es zwei große einander gegenüber aufgehängte TV-Bildschirme. Oft ist nur an einem der Ton eingeschaltet. So kann es zu seltsamen Mischungen kommen: ein amerikanischer Jesus-Sandalen-Spielfilm stumm auf der einen Seite wird sozusagen begleitet von Pop-Musik einer Schlagerrevue auf der anderen. Je näher es allerdings auf den hohen Osterfeiertag zugeht, desto sakraler wird auch das Programm: Übertragung der feierlichen Gottesdienste aus den großen Kathedralen Griechenlands, im byzantinischem Ritus ohne „Störgeräusche“ vom anderen Apparat. Einmal höre ich in der Erkennungsmelodie dieser Sendung die ersten Takte eines Bachchorals „Oh Haupt voll Blut und Wunden“, ein ökumenisches Zugeständnis an die römisch-christliche Musik zum Osterfest?

Andere Musik ist in diesem und im gegenüberliegenden Kafeneíon nicht zu hören. Allerdings gibt es gegenüber eine Jukebox, aus vergangenen Tagen. Die ausschließlich griechischen Rembetika-Lieder, die dort aufgeführt werden, waren möglicherweise im vergangenen Jahrhundert einmal Hits, mit Titeln wie „Ich hab die Welt auf den Kopf gestellt“, „Redet einfach nicht mehr mit mir“ (Leonardo Bournelis) oder „Ich hab es bereut wie ein Hund“, „Ich ging zu den Zauberinnen“. Der bekannteste und populärste dort aufgeführte Interpret ist vielleicht Stelios Kazantzidis, der 2001 verstarb, mit Nummern wie „Mein verfluchtes Schicksal“, „Der Fahrplan des Lebens“, „Ich hab dich sehr hoch gebracht“ und „Fang Feuer, fang Feuer“. Thematisch sind sie etwas anders gelagert als die herkömmliche Herz-Schmerz-Schlagerromantik wie wir sie kennen. Zu hören war allerdings keines dieser Lieder. (Auch in Kaloní gibt es eine solche Jukebox,  im Schaufenster eines Elektroladen, ebenfalls zur Dekoration: „Elektrophonio Ami Toy 1950, hergestellt in Amerika“. Und: „Wenn die Juke Box Lieder spielt…“ steht auf einem kleinen Hinweisschild. Sie ist nicht mehr in Betrieb, auch ein Museumsstück.

Jukebox. Foto: K. Swoboda

Zu dem, was wir unter griechischer Popularmusik kennen, Rembetiko- und Bouzukiklänge, wird am Ostersonntagabend per Plakat  geladen. Zwei Live-Konzerte sind angekündigt, allerdings in Café-Restaurants außerhalb des Ortskerns, bei „To Chani“ und in der „Taverna Paradeis“ an der Umgehungsstraße – leider zu spät für uns, die wir am Ostermontag, dem Tag unserer Abreise, um vier Uhr aufstehen müssen!Ansonsten sind Lieder im profanen Bereich kaum zu hören.

Foto: K. Swoboda, 2015
Irina. Foto: K. Swoboda, 2015

Irina, die lange in Offenbach gelebt hat, erzählt, dass natürlich bei Hochzeiten, Taufen und anderen weltlichen Anlässen gesungen und getanzt wird. Aber, so sagt sie, man engagiert dazu ein Orchester und Sänger. Heutzutage sei das Liedgut jedoch häufig englisch. Freilich kennt sie noch Lieder, die privat gesungen werden, zum Beispiel das Kinderlied „Ine kíne Léne“ – „Die kleine Lene hat geweint, sie spielt nicht, aber da kommt schon die Sonne“ oder das Schlaflied „Koimí soú“: „Schlaf mal, mein Kindchen, ich hab dir Goldsachen aus der Türkei (!) bestellt“ – „Engel, mach das Kind gesund, lass es gesund schlafen“. Und wir erfahren von Joanna den Text eines traditionellen Geburtstags- bzw. Namenstagsliedes, das sie uns gerne vorsingt: „…..auf dass du viele Jahre hast und weise wirst, mit grauem Haar“. Wehmütig auch ein Hochzeitslied mit der Klage: „…Ach Tochter, du gehst jetzt weg von der Mutter“. Wirklich Musik und Gesang habe ich in Fília nur im sakralen Zusammenhang gehört, da allerdings allgegenwärtig. Vom Lautsprecher auf dem Kirchturm ist nicht nur, wie schon erwähnt, der Glockenschlag zu hören, sondern auch zu manchen Zeiten in der Osterwoche die Stimme des Psaltisten  (das ist ein byzantinischer, das heißt griechisch-orthodoxer Kantor) aus dem Kircheninnern, der durch die Liturgie des Gottesdienstes führt.

Lorbeerbusch, geschmückt mit Bändern. Foto: K. Swoboda, 2015

Doch bevor wir uns ins Innere begeben, bleiben wir noch beim Gesang, der üblicherweise draußen erklingt. Am Sonntag vor Ostern, dem Lazarustag, ziehen Jungengrüppchen zu dritt  durch den Ort zu verschiedenen Häusern (dorthin, wo die Tore offen sind). Sie tragen am Samstag zuvor mit Bändern geschmückte Äste des Lorbeerbaums – der Lorbeer steht für den Heiligen Lazarus, der, scheinbar tot, von Christus noch mal zum Leben erweckt wurde, eine Vorwegnahme der am folgenden Sonntag zu erwartende Auferstehung Christi – und tragen dessen Geschichte singend vor. In einem Korb bitten sie um Eier für das Osterfest. In einer anderen Kiste werden Geldspenden gesammelt. Ein bisschen erinnert dieses Ritual an die Heiligen Drei Könige, die auch bei uns nach Weihnachten in manchen Gegenden ähnlich singend durch die Häuser ziehen.

Mindestens zweimal am Tag konnte man in Fília in der Woche vor Ostern die musikalische Gestaltung des Gottesdienstes erleben. Sie unterscheidet sich sehr von dem, was wir aus dem mitteleuropäischen Raum der römisch-christlichen Kirchen gewohnt sind. Hier seien zunächst die äußeren Eindrücke geschildert: Vor dem eigentlichen Altarraum befindet sich rechts und links im Kirchenschiff jeweils ein hölzerner säulenartiger Aufbau. Er ist gekrönt mit einem drehbaren Notenpult, auf dem verschiedene Folianten  aufgeschlagen liegen. Im Kirchengestühl dahinter haben eine bis drei Personen Platz, die Psaltisten. Keine Orgel und auch kein anderes Musikinstrument sind vorhanden. Zu hören ist allein eine Männerstimme, verstärkt durch ein Mikrofon. Alle Texte der Zeremonie, die Liturgie, Hymnen, Psalmen, Evangelien und Apostelbriefe, alle Gebete werden gesungen beziehungsweise psalmodiert. Es gibt kaum ein gesprochenes Wort – eventuell die Verlesung eines Hirtenbriefes anstelle einer Predigt durch den Popen.

Foto: K. Swoboda, 2015

Die psalmodierende Stimmführung unterscheidet sich gänzlich von dem, was wir als gregorianischen Gesang der Mönche kennen, die zwar einstimmig, aber doch immer zu mehreren singen. Hier ist der Gesang im wörtlichen Sinne ein-stimmig, gelegentlich summt der andere Psaltist einen begleitenden Ton. Die Melodieführung hat für unsere Ohren einen deutlich orientalischen Einschlag. Der Psaltist auf der rechten Seite  – ein wunderbar volltönender Bass – ist ganz offensichtlich der Stimmführer. Durch Blickkontakt mit dem linken Psaltisten deutet er den Wechsel bei den Responsorien an. Mit der Hand klopft er seinen Rhythmus zu den Worten. Die vor ihm liegenden Bücher sind aufgeschlagen, eine Notation, gänzlich verschieden von der uns bekannten, ist zu erkennen.

Notation. Foto: K. Swoboda

Die beiden Stimmen der Psaltisten, gelegentlich ergänzt durch die des Popen, führen durch die Liturgie, stimmen Psalmen und Gebete an. Die Gemeinde singt nicht wirklich mit, hat auch keine „Gesang“bücher in unserem Sinn. Für den Zuhörer aus dem mitteleuropäischen Raum noch verständlich ist das auch im römischen Ritus bewahrte griechische Kyrie eleison (Herr, erbarme dich). In der orthodoxen Liturgie fällt es jedoch auffallend oft an, im Gottesdienst der Osternacht meine ich sogar dreimal zwölf  „kyrie eleison“ gehört zu haben.

Aber auch der Ostersonntag-Vormittag verdient eine besondere Erwähnung: zunächst ist die Kirche noch leer, umso voller klingt das Psalmodieren rechts und links. Das Trappeln der langsam ankommenden Gläubigen, leises Reden und Tuscheln ist zu hören, dann wird es stiller. Der Ritus geht weiter, es kommt zur Lesung des Evangeliums. An diesem Tag geht es um die Begegnung des auferstandenen Christus mit dem daran zweifelnden Jünger Thomas. In der speziellen Osterbibel wird diese Stelle des Johannesevangeliums (20, 24 – 29) in vielen verschiedenen Sprachen zitiert, auf armenisch, englisch, russisch und anderen mehr. In Fília werden die drei Abschnitte dieser Textstelle auf jeweils drei Sprachen (also insgesamt neunmal) psalmodiert, zunächst der (kirchen-alt)-griechische Text, als nächstes ein ökumenischer Gruß an Rom, auf lateinisch, und dann, als Aufmerksamkeit an die Gäste aus Deutschland, wird er deutsch vorgesungen.

Osterevangelium, Deutsch mit griechischen Buchstaben. Foto K. Swoboda, 2015

Über das Besondere der orthodoxen Art zur Gestaltung des Gottesdienstes und seine Aufgabe dabei gibt der erste Psaltist der Gemeinde, Joannis Kefadis, in einem langen Gespräch Auskunft. Mein „Dolmetscher“ Bernhard Weinmann und ich treffen ihn nach dem Gottesdienst in der Sitzecke in Menis Kafeneíon. Der ehemalige Lehrer und Schulleiter der hiesigen Mittelschule ist seit fünf Jahren pensioniert. In fast jedem Gottesdienst hat er als erster Psaltis die Aufgabe der Stimmführung. Er geht ruhig und freundlich auf meine Fragen ein, wartet geduldig die Übersetzung ab und antwortet rücksichtsvoll „in kleinen Portionen“, die uns nicht überfordern, offensichtlich erfreut über unser Interesse und den Verlauf des Gesprächs.

Psaltist Joannis Kafidis. Foto: K. Swoboda, 2015

Sein Gesang habe uns beeindruckt, so beginnen wir das Gespräch, und fragen nach seinem Werdegang. Er verweist zunächst auf die Disposition einer guten Stimme als Voraussetzung für dieses Amt, dazu natürlich das Interesse und die Liebe zu dieser Art von Musik. Die bekam er sozusagen schon in die Wiege gelegt, als Sohn eines orthodoxen Priesters. Zunächst wollte er den gleichen Beruf wie sein Vater ergreifen, entschloss sich aber dann zu zwei parallel laufenden Studiengängen: neben der staatlichen fünfjährigen Ausbildung zum Lehrer absolvierte er ein ebenfalls fünfjähriges Studium der byzantinischen Musik an einer privat-religiösen Musikschule. Er hat also zwei Abschlusszeugnisse, die ihn als Lehrer und als Psaltist (theíos psaltís) qualifizieren! Er verfügt über genaue Kenntnis der liturgischen orthodoxen Sprache, einer Mischung aus Altgriechisch und Katharévousa, der griechischen Hochsprache, die sich von der heutigen griechischen Umgangssprache, dem Dimotikí, stark unterscheidet. Außerdem beherrscht er die Notierung des byzantinischen Gesangs, die ebenfalls nichts mit der Notenschrift, wie wir sie kennen zu tun hat, sondern eher wie ägyptische oder hebräische Schriftzeichen anmutet.

Es gibt eine Vielzahl von Büchern (50!!) mit den liturgischen Texten und Gesängen für das gesamte Kirchenjahr. Er nennt uns das Anastasimatárion, in dem die Hymnen und Andachten für die Osterzeit notiert sind. Anhand des Kyrie erklärt er uns das differenzierte Acht-Ton-System der byzantinischen Musik, die sich nach der endgültigen Trennung der morgenländischen Kirchen von Rom im 18. Jahrhundert auch von der gregorianischen Musiktradition gänzlich abgesetzt und neu herausgebildet habe.

Notierungen und Notizen. Foto: K. Swoboda

Das drehbare Notenpult braucht er, um jeweils den richtigen für diesen oder jenen Tag zu verwendenden liturgischen Text oder Psalm vorliegen zu haben. Sehr wichtig sei für ihn und den zweiten Psaltisten ihm gegenüber auch das Schlagen des Rhythmus mit der Hand, um die Satzmelodie beizubehalten. Wir fragen nach der Stimmpflege: Natürlich, so wird uns erklärt, ist so etwas wie die Osterwoche, wo Joannis fast jeden Tag zweimal psalmodiert, für die Stimme anstrengend. Er hat deshalb immer Wasser und Bonbons am Notenpult liegen. Zur Stimmpflege zu Hause benutzt er heißes Wasser, mit Zitrone und Honig, auch Eukalyptusblätter seien hilfreich, ebenso ein Einsingen vor dem Gottesdienst, meist mit Teilen der Psalmen. In der Schule würde der byzantinische Gesang nicht gelehrt. Dort bestehe der Musikunterricht aus populärer und moderner Volksmusik sowie der Vermittlung von (zentral)-europäischer klassischer Musik, erzählt er uns. Gesungen werde in der Schule wenig, weshalb die Gemeinde auch wenig, etwa bei den Psalmen – und dann nicht immer richtig – mitsingen könne. Traditionell gibt es keine Instrumentalmusik in der Byzantinik. Es soll aber auch in Griechenland Veränderungstendenzen geben, etwa in Hinblick auf Mehrstimmigkeit oder auch dem Einsatz einer Orgel. Aber auf Lesbos sehe er das nicht. Die einzige – technische – Neuerung in Fília sei das Mikrofon zur Verstärkung der Stimme. Grundsätzlich können auch Frauen ein Psaltisten-Sängerinnen-Diplom machen. An bestimmten Tagen, so erfahren wir, singen nur die Frauen, manchmal zusammen mit einem kleinen Chor aus jungen Mädchen,  zum Beispiel in der Nacht zum Karfreitag, beim Schmücken des Epitaphs, dem Grabschrein Christi. Drei Stationen werden dabei von ihnen besungen,

  1. Das Leben im Grab, „I zoí en táfo“, „Gute Worte“ (Eugomía)
  2. Lobgesang, Alles ist gut („Axíon ésti“, bei uns bekannt durch das gleichnamige – politische – Oratorium von Mikis Theodorakis)
  3. „Alle Menschen kommen an dein Grab“, Grabeshymne

Tatsächlich hören wir die Frauen am Gründonnerstag beim Schmücken des Epitaphs in der Kirche singen, mit Gebetbuch, aber ohne Noten. Zwölf bis fünfzehn beten und psalmodieren vor der gekreuzigten Christusfigur.

Klagegesang für die Panagía. Foto: K. Swoboda, 2015

Am Abend des Karfreitags, einen Tag später, singt ein Mädchenchor im Gottesdienst vor der nächtlichen Prozession – der Grabtragung durch den Ort – die Eugomía-Lieder. Die Frau des Popen hat sie mit ihnen am Tag zuvor einstudiert. Melina, Menis Enkelin, die über die Ostertage aus Kaloní zu Besuch ist und mit gesungen hat, erzählt: „Die Teilnahme ist freiwillig. Die Frau des Popen erklärt uns die Texte, die wir ja zuerst gar nicht verstehen. Sie singt dann vor, wir singen nach. Es ist gar nicht so schwer und wir machen das immer an Ostern.“
Es klingt schön in der nächtlichen Kirche, auch eine Solostimme ist zu hören, sowie ein Wechselgesang der Frauen mit unserem Psaltisten. Auch die Gemeinde singt heute etwas kräftiger mit.

Eine nennenswerte materielle Gratifikation gibt es für den Psaltisten nicht. Einmal wurde ihm eine hauptberufliche Kantorstelle auf Chios angeboten, mit einer Vergütung von ca. 800 –1000€. Aber er hat dann doch den Lehrerberuf vorgezogen und so singt er in Fília, dem Ort, dem er sich sehr verbunden fühlt, also mehr oder weniger ehrenamtlich. Man spürt, dass sein Herz für diese Musik schlägt. Ähnliches erfahren wir auch von Jorgos, dem zweiten jüngeren Psaltisten, mit dem wir uns am Samstag vor Ostern unterhalten. Giórgos Fragojánnis hat sogar drei „Berufe“. Zum einen führt er den Minimarket auf der kleinen Plateía, der direkt neben dem Postamt untergebracht ist, das ebenfalls von ihm betrieben wird (Briefmarken also bekommt man auch im Laden über die Theke gereicht). Daneben psalmodiert er fast jeden Tag in der Osterwoche. Alle drei „Beschäftigungen“ mache er, wie er sagt, sehr gerne. Das Gespräch findet im „Postamt“ statt. Giórgos bietet uns zwei Stühle an, bleibt während unserer Unterhaltung aber selbst an die Theke gelehnt stehen.

Giórgos Fragojánnis, zweiter Psaltist. Foto: K. Swoboda, 2015

Wie ist er zum Kirchengesang gekommen? Seine Mutter, so erzählt er, habe eine sehr schöne Stimme (kalí foní) gehabt, die habe er vielleicht von ihr geerbt. Und vor ungefähr dreißig Jahren gab es einen „gelernten“ (studierten) Psaltisten aus dem Nachbarort Skalochóri, der beruflich zum Singen nach Fília kam. Der suchte Kinder, die singen konnten.  Giórgos wurde im Alter von zehn Jahren von ihm ausgewählt und lernte durch Zuhören alles von ihm. Mit zwanzig durfte er dann neben diesem Psaltisten singen. Er psalmodiere nun schon seit ebenfalls zwanzig Jahren. Alles, was er könne, habe er nicht auf einer Schule, sondern nur von diesem Mann gelernt.

Auch er hat ein eigenes „Noten“buch (triódio) für die Osterzeit, das ihm anzeigt, wann wer dran ist mit Singen. Empirie und Erfahrung haben ihm weiter geholfen. Auch die „alte“ Sprache, das Kirchengriechisch, zu verstehen sei ihm nicht schwer gefallen. Uns ist aufgefallen, dass er einen Großteil der Liturgie übernimmt (das Kyrie zum Beispiel), weniger die Psalmen und die Lesungen, aber wie genau die Aufteilung aussieht, wird im Gespräch nicht ganz klar.

Es gibt wohl kleine Formen der materiellen Gratifikation (peanuts, sagt er).Wichtiger aber sei: er fühle sich für sich selbst sehr gut (polí kalá) und am meisten freue er sich über die Anerkennung, die er von den Leuten bekäme. Überall auf Lesbos sei es Brauch, führt aus, dass die Mädchen am Karfreitag – den er Rosen-Freitag nennt – singen. Das habe auch eine spezielle Bedeutung: die Mädchen stünden an der Stelle der Panagía, der Heiligen Jungfrau Maria, und singen die Klagelieder der trauernden Mutter. Vierzig Tage lang, so erklärt er uns weiter, sei nach dem Ostersonntag der (all)tägliche Morgengruß für alle Leute hier „Christós anésti – alithós anésti“ (Christus ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden), bis zum endgültigen Abschied an Christi Himmelfahrt.

Christós anésti

Es ist lauter geworden in Fília. Die Trauerzeit in der Karwoche ist vorüber, Christus ist in der Osternacht auferstanden, Freude und Geselligkeit erfüllen jetzt das Leben im Dorf. Wie sich profaner und sakraler Klang vermischen, haben wir bereits erwähnt: die Kanonenschläge des Feuerwerks begleiten und übertönen in der Auferstehungsnacht die letzten liturgischen Gesänge in der Kirche und den Gang des Popen mit der goldenen „Monstranz“  nach draußen.

Lauter und voller ist es in der Osternacht im Dorf geworden: die Gaststuben sind bis nach Mitternacht mit jungen und alten Menschen gefüllt mit der zu den Feiertagen angereisten Verwandtschaft, in fröhlicher Feierlaune. An Ostersonntag sind auf der großen Plateía Tische und Stühle im Freien aufgestellt, junge Leute sitzen daran, es wird gegessen, getrunken und geschwätzt.  Ein großes Fest auf dem Platz ist angesagt, für Ostermontag.

Aber da sind wir leider schon wieder im ganz anders klingenden Frankfurt!

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in:

Ulrike Krasberg (Hg.)(2015): Kali Anastasi. Kulturwissenschaftliche Exkursion ins österliche Griechenland von Studierenden der Universität des 3. Lebensalters. Frankfurt/M: Universität des 3. Lebensalters an der Goethe-Universität Frankfurt/M. Forschung und Projekte Nr. 5.

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