von Stratis Anagnostou, Historiker
Ende 2016 brachte uns die Entdeckung wertvoller Hinweise zur neueren Geschichte von Lesbos, dank der Buchveröffentlichung des Wissenschaftlers für Osmanische Zeitgeschichte, Konstantinos Kampouridis, mit Titel: „Die Insel Lesbos im 16. Jahrhundert. Wirtschaft und Bevölkerung. Das osmanische Geschäftsbuchregister von 1548“. In dem besagten Geschäftsbuch findet sich unter anderem ein Register über Daten zu Bevölkerung und landwirtschaftliche Produktion des Dorfes Tsichrada oder Kechrada (Kehranda, wie es im Geschäftsbuch lautet). Dieser Ort gehörte in jener Epoche zu der Nahiye (erweiteter Gemeindebezirk) Molybos, während es heutzutage gemäß der Volkszählung von 2011 mit 32 ständigen Einwohnern lediglich der am Meer gelegene Ortsteil des Dorfes Filia ist (im gleichen Jahr wurden in Filia 685 ständige Bewohner registriert).
Laut dem osmanischen Geschäftsbuchregister des Jahres 1548 war Tsichrada ein Dorf, das 175 steuerrelevante christliche Haushalte umfasste, d.h. 91 Familien (hane), 69 Ledige, 15 Witwer/Witwen sowie 3 verheiratete Muslime. Wenn wir in Betracht ziehen, wovon die Fachleute dieser Epoche ausgehen, dass die Steuerhaushalte jener Zeit aus 4 bis 5 Mitgliedern bestanden, dann ergibt sich für Tsichrada eine Gesamtbevölkerung von ca. 500 bis 600 Einwohnern.
In dem erwähnten Geschäftsbuch von 1548 werden auch alle Vornamen (sowie einige Familiennamen) der steuerpflichtigen Einwohner von Tsichrada aufgeführt. Die meisten der Namen sind gut lesbar, aber es gibt auch einige, die auf Grund der arabischen Schriftzeichen, welche die Osmanen damals benutzten, nicht mit Sicherheit wiedergegeben werden können. Bei diesen Namen können wir folgende hervorheben: die Witwe Komnini, die Witwe Batatzaina, den Sohn Palaiologos und Andronikos Spathis. Es handelt sich hierbei um Namen, die unmittelbar auf die entsprechend jüngere byzantinische Vergangenheit von Lesbos hinweisen, weil die Insel ja bekanntermaßen im Jahr 1462 von den Osmanen besetzt wurde, also lediglich 86 Jahre vor der Herausgabe dieses Geschäftsbuchregisters.
In selbigem Geschäftsbuch wird auch die Besteuerung folgender Produkte festgehalten, die Mitte des 16. Jahrhunderts in Tsichrada angebaut wurden: Weizen 547 Koila (1 Koila ist ca. 25 Kilo), Gerste (97 Koila), Bohnen (85 Koila), Feigen (70 Koila), Oliven (126 Koila), Wallnüsse (12 Koila), Sesam (3 Koila), Kichererbsen (3 Koila), Schwarzbohnen (106 Koila), Leinen (131 Ser), Baumwolle (192 Ser), Most (919 Medre) sowie Seidengespinnst (59 Lidre).
Ebenso werden die Steuererhebungen auf Gärten, der Gemüsegärten und des Zwiebelanbaus, für Schweine, Bienenstöcke, Fische und Eicheln registriert. Und schließlich wird auch die Besteuerung für den Betrieb von 9 Wassermühlen und 4 Olivenölmühlen festgehalten.
Die obigen Registrierungen sind sehr bedeutend, weil hiermit detailliert ein Nachweis über die landwirtschaftliche Produktion Tschichradas geführt wird und allgemein Einblicke in die lokale Wirtschaft Mitte des 16. Jahrhunderts gewährt werden. Es ist darüber hinaus der Mühe wert, darauf hinzuweisen, dass die gesellschaftlich-wirtschaftliche Lage dieser Zeit sowohl Tsichrada als auch der ganzen Insel eine selbstkonsumierende Wirtschaftsform auferlegte. Im Übrigen war Lesbos noch nicht der Oliven-Monokulturanbau und die erzwungene Umwandlung bewirtschafteter Flächen zu Olivenhainen aufgedrängt worden.
Filia wird in diesem Geschäftsbuch von 1548 nicht als Siedlungsort aufgeführt. Der erste Hinweis auf den Ortsnamen Filia erfolgt in osmanischen rechtsgeschäftlichen Schriftstücken von 1564 und 1572, die sich in dem Archiv des Klosters Moni Leimonos befinden. Konkret wird in diesen Schriftstücken über den nach Filia führenden Weg berichtet, ohne dass deutlich gemacht wird, ob Filia bereits eine errichtete Ansiedelung ist.
Zum ersten Mal wird Filia als Siedlungsort im osmanischen Steuerregister von 1581 aufgeführt, das mehr oder weniger ebenso ausführlich ist wie das entsprechende Geschäftsbuchregister aus dem Jahr 1548. In dem Geschäftsbuch des Jahres 1581 wird über die Steuererhebung im Dorf Tsichrada oder mit anderem Namen Filia berichtet. Es handelt sich hierbei um eine der doppelten Namensbezeichnungen, die in den osmanischen Steuerregisterbüchern des 16. Jahrhunderts häufig verwendet wurden. Wie die Fachwissenschaftler treffend belegen, bedeutet eine Registrierung in Form von Siedlung A oder andere Bezeichnung, Siedlung B, den Umzug der Bevölkerung von der Siedlung A zur Siedlung B, weil der Steuermodus dieser Zeit die lokale Zuordnung der Bewohner für einen bestimmten Zeitraum erforderlich machte, um ihnen die saisonalen Steuern auferlegen zu können.
Das 16. Jahrhundert ist eine Epoche, während der massenhafte Bevölkerungsbewegungen innerhalb der Insel zu verzeichnen sind. In einem Netz, das aus 159 Städten und Dörfern besteht, gibt es manche Siedlungen, die veröden, andere schrumpfen zusammen und andere wiederum vergrößern sich. Die Gründe der Binnenwanderungen sind, meiner Meinung nach, sowohl in den häufigen Epidemien/Seuchen, die in jener Zeit in einer Hochphase vorkamen, als auch in den Piratenüberfällen zu suchen, welche die Bewohner dazu zwangen, ihren Dauerwohnsitz von den Meeresufern ins Inselinnere zu verlagern.
Der Hauptgrund dieser Binnenwanderung der Inselbewohner, die in ihrer überwältigenden Mehrheit Christen waren, ist jedoch die Erkundung neuer Arbeitsgebiete, wie das sich ständig ändernde osmanische Feudalwesen dieser Zeit es ihnen auferlegte.
Konkret vermachte der osmanische Staat seinen Offizieren als Belohnung für ihre militärischen Dienste umfangreiche Ländereien (Timaria – Lehnsgüter) zur Bewirtschaftung. Diese Lehnsherren hatten als Haupteinnahmequelle die Eintreibung von Steuern bei der lokalen Bevölkerung, welche in der Regel auf den Lehnsgütern arbeitete. Charakteristisch dafür ist das Beispiel von Tsichrada, welches im Jahr 1548 ein reiches Dorf war, das einen Steuerertrag von 18.105 Asper (Akce) abwarf, und vom Sultan als gemeinsames Lehngut an 17 Verteidiger der Burg von Mytilini vermacht wurde.
In der Folge verlassen die Bewohner Tsichradas zwischen 1548 und 1581 das Dorf am Meeresufer und gründen die im Landesinneren gelegene Siedlung Filia. Laut dem osmanischen Steuerregisterbuch von 1581 gab es in Filia 197 steuerpflichtige Haushalte, d.h. etwa 800 bis 1000 Bewohner, wobei sich in Filia im Vergleich zu Tsichrada die Bevölkerungszahl erhöht hatte. Der Ort Filia erwirtschafte im Jahr 1581 ein Steuereinkommen von 22.900 Asper (Akce), eine höhere Summe als der entsprechende Betrag von Tsichrada. Wie in Tsichrada erfolgt, waren auch die zu bewirtschaftenden Ländereien Filias vom Sultan als gemeinsames Lehngut an Verteidiger der Burg von Molybos vergeben worden.
In der Zeit 1618-1621 berichtet der Mitropolit von Mithymnis, Gabriel Soumaroupa, in seinem handschriftlichen Text mit Titel „Schilderung von Lesbos“, dass es in Filia 60 von Christen und 20 von Muslimen bewohnte Häuser sowie eine christliche Kirche, nämlich des Heiligen Georgios gab.
Er fügt sogar hinzu „ dies ist ein rechtschaffener Ort“ im Gegensatz zu anderen gemischten Dörfern seines Erzbistums, in denen die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen vom gleichen Mitropoliten als äußerst schlecht charakterisiert werden. Wenn wir die Anzahl der Bewohner Filias in der Zeit 1618-1621 mit der von 1581 vergleichen, ergibt sich, dass Filia aus uns unerfindlichen Gründen innerhalb von 40 Jahren ungefähr 58 % seiner Bevölkerung verlor.
Die Tatsache schließlich, dass die Kirche des Dorfes sowohl zur Zeit 1618-1621 als auch heute zu Ehren und Gedenken des Heiligen Georgios geweiht ist, bekräftigt die Einschätzung, dass der Ort Filia Ende des 16. / Anfang des 17. Jahrhunderts n. Chr. sich an der gleichen Stelle wie heute befand.
Verwendete Bibliografie:
1. Anagnostou Stratis, Die
Siedlungsentwicklung von Lesbos (1462-1912).
Der Übergang von der bäuerlichen Zusammensetzung zur bürgerlichen Gliederung
des Raumes, Mytilini 2004 (Unveröffentlichte Doktordissertation, die am Fachbereich
Geographie der Ägäis Universität verfasst wurde). http://www.didaktorika.gr/eadd/handle/10442/22677
2. Kampouridis Konstantinos, Die Insel Lesbos im 16. Jahrhundert. Wirtschaft und Bevölkerung. Das osmanische Geschäftsbuchegister von 1548, Thessaloniki 2016. 3.Karydonis Stauros, Die geweihten patriarchalischen Klöster des Heiligen Ignatios in Kalloni, Lesbos, des Erzbistums Mithymnis, Konstantinopel 1900.
4. Fountoulis Ioannis, „Die Schilderung von Lesbos“ des Mitropoliten von Mithymnis Gabriel Soumaroupa (1618-24/2/1621), Mytilini 1993.
Übersetzung: Bernhard Weinmann