von Ulrike Krasberg
Mein Haus in Filia wurde vor über 200 Jahren von einer türkischen Familie im Dorf erbaut. (Aus historischen Dokumenten geht hervor, dass im 17. Jahrhundert etwa ein Drittel der Häuser im Dorf muslimische Familien beherbergte. Im 19. Jahrhundert waren es noch etwa ein Viertel. Es gab sowohl eine Kirche in der Ortsmitte als auch ein paar Gassen weiter eine Moschee und ein Hamam am Ortsrand).
Als die Nachkommen dieser Familie im Zuge des Bevölkerungsaustauschs nach dem griechisch-türkischen Krieg in den 1920er Jahren in die Türkei übersiedeln mussten, verkauften sie es an die Familie meines älteren Nachbarn, der heute im Haus seiner Frau in der Gasse gegenüber wohnt. Er stammte aus einer Familie mit acht Kindern, vier Jungen und vier Mädchen. Die Familie war nicht sehr wohlhabend, aber sie hatte ihr Auskommen durch Schafzucht auf dem der Insel gegenüberliegenden türkischen Festland, wo ihnen größere Weideflächen gehörten. Der Vater und seine vier Söhne lebten die meiste Zeit des Jahres bei den Herden in der Türkei. Von dieser Arbeit finanzierten sie gemeinsam für drei der Töchter die Mitgifthäuser, die vierte, die älteste bekam das Haus der Eltern. Als er mir seine Familiengeschichte erzählte, deutete er auf mein Haus und sagte:
„Für das Haus da habe ich hart gearbeitet, damit wir es für meine Schwester Marianthi kaufen konnten! Als dann alle meine Schwestern ihre Häuser hatten und ich auch für mich selbst hätte etwas aufbauen können, wurden uns im griechisch-türkischen Krieg von 1921 die Weiden in der Türkei weggenommen. Die Herde haben wir versucht hierher zu bringen. Aber als wir ein Schiff gefunden und die Tiere verladen hatten und wir fast in Mytilini angekommen waren, hat uns die Schiffsmannschaft über Bord geworfen und ist mit der Herde wieder zurück in die Türkei gefahren – und das waren Griechen, keine Türken!“ fügte er bitter hinzu. „So sind meine Brüder, mein Vater und ich völlig mittellos hier wieder angekommen. Das Haus“ – er deutet auf sein eigenes – „gehört meiner Frau! Evrikomi und ich haben es sehr schwer gehabt, bis ich wieder eine Herde zusammen hatte, von der wir leben konnten!“
Häuser sind Mitgift der Frauen
Die Männer im Dorf ziehen nach der Hochzeit in das Haus ihrer Frau, werden zwar offiziell Mitbesitzer, im Bewusstsein der Bevölkerung aber sind die Häuser im Dorf ausschließlich „weiblich“. Einerseits weil sie als Hausmitgift Erbe der Frauen sind und andererseits Sinnbild für den weiblichen Lebensbereich. Wenn eine Ehe geschieden wird, muss der Ehemann ausziehen und die Frau bleibt mit ihren Kindern im Haus.
Als in den 1980er Jahren die Ideen der internationalen Frauenbewegung sich auch in Griechenland ausbreiteten, zogen Feministinnen mit dem Argument gegen die Hausmitgift zu Felde, dass in der patriarchalischen Gesellschaft Griechenlands Mädchen schon von Geburt an die schlechteren Karten hätten, das heißt weniger erwünscht seien als Söhne. Denn jeder Vater fürchte wegen der Hausmitgift, die Geburt einer Tochter, und deshalb müsse die Hausmitgift abgeschafft werden. Diese Forderung setzte sich aber nicht durch. Die überwiegende Mehrheit der Frauen – Mütter wie Töchter – bestand auf der Mitgift.(übrigens gingen viele Männer auch deshalb als Gastarbeiter nach Europa um für die Häuser ihrer Töchter das notwendige Geld zu erarbeiten). Denn diese Mitgift sicherte den Frauen und ihren Kindern ihre ökonomische Unabhängigkeit.
Warum alte Häuser im Dorf verfallen
Schon immer gab es unbewohnte Häuser im Dorf, aber seit der Wirtschaftskrise werden es mehr. In früheren Zeiten – wenn die Besitzer eines Hauses verstorben waren – wurde das Gebäude als zukünftige Hausmitgift potenziell bewohnbar gehalten oder auch, wenn ihre Bewohner ab den 1960er Jahren ins europäische Ausland zum Arbeiten gegangen waren. Viele der nicht permanent bewohnten Häuser dienen heute als Ferienwohnung, wenn ihre Athener Besitzer im Sommer ins Heimatdorf kommen. Seit 2011 aber, seit die Grund- und Bodensteuer in Griechenland eingeführt wurde, müssen auch für die leer stehenden Häuser Steuern bezahlt werden. Im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise in Griechenland können sich das nur noch wenige Familien im Dorf leisten. Etliche versuchen die Häuser zu verkaufen, was aber meist nicht gelingt. Die Lösung ist, die Häuser dem Staat zu schenken, der sie dann schlicht verfallen lässt. Manche Gebäude verfallen aber auch, weil sie einer größeren Erbengemeinschaft gehören. Da die Preise der Häuser extrem niedrig sind, lohnt sich für mehrere Erben noch nicht einmal der Aufwand das Haus zu verkaufen, falls sich überhaupt ein Käufer finden sollte. Auch diese Häuser verfallen.
Aus: Ulrike Krasberg (2017): Griechenlands Identität. Geschichten und Menschen verstehen. Frankfurt/M: Größenwahnverlag