von Ulrike Krasberg
An der „Universität des 3. Lebensalters“ (eingegliedert in die Goethe-Universität Frankfurt am Main) bieten emeritierte ProfessorInnen und pensionierte WissenschaftlerInnen Seminare und Vorlesungen aus ihren Fachgebieten an für Menschen ab 60, die „noch was lernen wollen“. Auch ich als gelernte Kultur- und Sozialanthropologin (früher hieß das mal „Ethnologie“) unterrichte an der U3L. Als die Wirtschafts- und Finanzkrise in Griechenland zu Anfang der 2010er Jahre auf ihrem Höhepunkt war, bot ich Seminare zu Land und Leuten und der Kulturgeschichte Griechenlands an, die in eine Exkursion in ein griechisches Dorf auf der Insel Lesbos Ostern 2015 mündeten.
Die sieben Studierenden, die am Ende tatsächlich mitfuhren, sollten einerseits Gelegenheit haben die Osterbräuche zu erleben, andererseits aber auch mit konkreten Forschungsfragen ins Dorf gehen, so wie sich das für eine ethnologische Feldforschung gehört.
Filia lädT ein
Das Dorf Fília kenne ich seit den 1970er Jahren. Als Ethnologin hatte ich dort in den 1980er Jahren über griechische Familienstrukturen geforscht, und darüber sind etliche Freundschaften mit den DorfbewohnerInnen entstanden, was schließlich dazu führte, dass ich ein kleines altes Haus im Dorf erwarb, in dem ich bis heute jedes Jahr so viel Zeit wie möglich verbringe. Es waren meine griechischen Freundinnen und Freunde im Dorf, die mich irgendwann fragten, ob ich „meine“ Studierenden an der U3L nicht mal mit ins Dorf bringen wolle? Wie ernst das gemeint war, merkte ich, als meine Freundin Meni, die mit ihrem Mann zusammen ein Kaffeehaus am Dorfplatz betreibt, ernsthaft begann, nach Übernachtungsmöglichkeiten zu suchen. Dazu muss man wissen, dass Fília ein ganz und gar untouristisches Bergdorf ist. Es gibt kein Hotel, auch keine „offiziellen“ privaten Übernachtungsmöglichkeiten und kein Restaurant. „Mit dem Essen, das ist kein Problem, ich koche für euch alle im Kafeneíon! Aber wo sollen die Leute schlafen?“ überlegte Meni. Schließlich fanden sich die benötigten sieben Betten in Privathaushalten für die sieben ExkursionsteilnehmerInnen, und die „group“ konnte kommen.
“Ich kann doch kein Griechisch”
Die größte Besorgnis der Teilnehmer vor der Exkursion war die Sprache. „Ich kann doch gar kein Griechisch, wie soll ich da an Informationen kommen?“ Aber die Kommunikation gelang auch ohne griechische Sprachkenntnisse der Studierenden. Abgesehen von einem Teilnehmer, der gut Griechisch sprach – er hatte in jungen Jahren mehrere Semester an der Universität in Thessaloniki studiert – und sich zum Übersetzen bereit erklärte, kamen den Einzelnen immer wieder Dorfbewohner zur Hilfe, die lange Zeit im Ausland gelebt hatten und Englisch, Deutsch oder Spanisch sprachen (eine Sprache, die auch eine Teilnehmerin sehr gut beherrschte) und mit Freude die Gelegenheit nutzten, von sich und dem Leben im Dorf zu erzählen.
“Was kann ich denen schon erzählen?”
Ein Thema im Dorf über den bevorstehenden Besuch der Gruppe war das Alter der Studierenden. „Wie, die sind schon so alt und studieren?“ Das Konzept des lebenslangen Lernens, die im Alter nun arbeitsfreie Zeit zu nutzen, um etwas zu lernen, wofür bislang keine Zeit war, leuchtete den älteren Männern im Kafeneíon aber schnell ein. Das fanden sie gut, und als ich sie bat, sich für Fragen der Gruppe zur Verfügung zu stellen und ihnen von ihrem Leben im Dorf zu erzählen, waren sie – trotz ein paar Bemerkungen wie „Was kann ich denen schon erzählen?“ – durchaus einverstanden. Ein älteres Ehepaar, Giórgos und Merópi, die lange in Deutschland gelebt hatten, seit ein paar Jahren wieder im Dorf sind und sehr aktiv am Dorfgeschehen teilnehmen, luden Teilnehmerinnen der Gruppe zu sich nach Hause ein und beantworteten geduldig alle Fragen. Sie waren eine wahre Fundgrube an Wissen über das Leben im Dorf.
Besuch im Museum
Gegen Ende des Aufenthalts lud der Pope die Gruppe in das für die Öffentlichkeit geschlossene „Museum“ am Dorfplatz ein. Das Gebäude, in Besitz der Kirche, beherbergte Objekte der „Volkskultur“ aus dem letzten und vorletzten Jahrhundert: Geschirr, Haushaltsgegenstände und landwirtschaftliche Geräte, Bücher, Postkarten und Ikonen, Kleider aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, Elektrogeräte aus den USA aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. All dies wurde in den Räumen eines „Herrenhauses“ von 1875 aufbewahrt. Als seine wohlhabenden Besitzer kinderlos starben, schenkten sie das Gebäude der Kirche – und nun gehört es zu den Aufgaben des Popen von Fília sich darum zu kümmern. Die Objekte des Museums lagen zwar in Vitrinen, Schränken und Truhen oder hingen an den Wänden, waren aber nicht zu einer Ausstellung aufgearbeitet worden. „Das muss alles noch gemacht werden!“ erklärte uns Pater Simeon mit einem Seufzer. „Aber ich weiß nicht, wie man das macht. Ich bin ja nur Priester!“ Was er jedoch wusste war, dass ich jahrelang als Ethnologin in einem Museum gearbeitet hatte. Und die Gruppe war begeistert: „Wir kommen nächstes Jahr wieder und helfen dem Popen das Museum aufzubauen!“ Also bot ich in der U3L zwei Seminare zum Thema „Museologie“ an, um potenzielle TeilnehmerInnen für die Arbeit fit zu machen.
Ein Jahr später
Als 2016 die Museumsgruppe ins Dorf kam, galt es zunächst eine Bestandsaufnahme der Objekte zu machen. Wir nahmen jeden Gegenstand in die Hand und beschrieben ihn nach einer in Museen gängigen Systematik, die wir dafür übernommen hatten. Wobei wir immer wieder fragen mussten, was es mit diesem oder jenen Gegenstand auf sich hatte. Danach wurde das Objekt fotografiert, mit einer Nummer versehen und schließlich alles digitalisiert.
Keine Spitzenstücke, aber ein Konzept
Ein Jahr später reisten wir mit einer Ausstellungskonzeption an, die wir uns in der Zwischenzeit in Frankfurt erarbeitet hatten. Die Objekte der Sammlung waren keine sogenannten „Spitzenstücke“, also unbeschädigt und von herausragender handwerklicher Qualität. Es waren Gegenstände, wie sie in den letzten 100 Jahren überall in den Haushalten, den wohlhabenden und ärmeren, zu finden waren und durchweg mehr oder weniger starke Gebrauchsspuren hatten. So sah unser Konzept vor, den museologischen Schwerpunkt auf die Verwendungsgeschichte einzelner Objekte zulegen. Damit wurden die Objekte zu einer Art Fenster in die Vergangenheit des Dorfes. Wir orientierten uns bei diesem Konzept an Orhan Pamuks „Museum der Unschuld“ in Istanbul. Pamuk hat gewöhnliche Alltagsgegenstände, die er auf Flohmärkten und bei Trödlern gefunden hatte, in einzelnen Schaukästen wie in Dioramen so inszeniert, dass Besucher – auch qua eigener Phantasie – die Atmosphäre vergangener Zeiten (bzw. seines Romans) erleben konnten. Auch das Buch von Neil MacGregor eine „Geschichte der Welt in 100 Objekten“ inspirierte uns, mit den Objekten Geschichten zu erzählen, die das Dorf und seine Lebensbedingungen kulturhistorisch lebendig machen konnten.
Dass dieses Konzept und die konkreten Ideen, die wir dazu hatten, nicht eins zu eins vor Ort umzusetzen waren, war uns klar. Wir wollten versuchen, zumindest zwei Räume, das sogenannte „Herrenzimmer“ mit der Bibliothek und Gemälden, das „Frauenzimmer“ mit Damenkleidern, aber auch einen Teil des langen Flurs, so zu gestalten, dass die Dorfbewohner schon mal einen ersten Eindruck von der geplanten Ausstellung gewinnen konnten. Aber auch dieser reduzierte Teil war vom Arbeitsumfang sehr ambitioniert.
Eine Bauernstube oder nicht?
Während unserer ersten Museumsexkursion 2016 hatten wir den Eindruck, dass für die Dorfbewohner die Vorstellung von einem Heimatmuseum als „Lernort über die eigene Vergangenheit“, wie es in Deutschland geläufig ist, recht fremd war. Diesmal stellten wir fest, dass es sehr wohl Vorstellungen darüber gab, was ein Museum ist und wie es auszusehen hätte. Nämlich so wie alle Heimatmuseen auf der Insel aussehen: Möglichst realistische „Bauernstuben“ darzustellen. So wurden im Dorf zum Beispiel Überlegungen angestellt, woher ein altes Kanapee (eine bestimmte Art von Holzbank) für das Museum zu bekommen sei. Die würde noch fehlen um ein richtiges Bauernzimmer d. h. ein „Museum“ zu gestalten.
Wie kann ein Ausstellungskonzept vermittelt werden?
Wir merkten wie wichtig eine Vermittlung unseres Konzepts war und überlegten zunächst einen Informationsabend im Kafeneion zu veranstalten, damit alle wüssten, was wir vorhaben. Aber dann wurde uns klar, dass wir unser Konzept nicht in Infoabenden an die Dorfbewohner weitergegeben konnten. Es schien uns besser, erste Ensembles im Museum aufzubauen und dabei den Besucherinnen und Besuchern aus Filia, die ja immer wieder zu uns in die Räume kamen, zu erklären, was wir damit zeigen wollten. Diese würden es auf dem Dorfplatz und in der Familie weitererzählen, es würde diskutiert, und so allmählich würden die Bewohner mit ihren eigenen Worten weitergeben, was sie gesehen haben und was sie davon hielten. So würden unsere Ideen allmählich im Dorf die Runde machen. Dabei war vor allem unser mittlerweile bestehender guter Kontakt zur Realschule im Dorf von großer Bedeutung.
Wir mussten uns also in Geduld üben, was der Gruppe aber sehr schwer fiel. „Wir haben für unsere Arbeit nur zwei Wochen, wenn mehr Dorfbewohner mit anpacken würden, könnten wir viel mehr schaffen!“ hieß es immer wieder. Da wir aber keineswegs im Sinne eines Entwicklungshilfeprojekts Filia ein Museum nach unseren Vorstellungen aufbauen wollten, es sollte vielmehr mit den Dorfbewohnern zusammen entwickelt werden – schließlich war es ihr Museum – mussten wir darauf warten, dass sich im Dorf eine Meinung zum Museum entwickelte.
Das geklaute Hochzeitskleid
Das geschah schließlich auch. Aber ganz anders als wir erwartet hatten. Als ich 2018 im Frühjahr alleine, ohne die Gruppe ins Dorf kam, hatte der Pope schlechte Laune. Er war von einigen Dorfbewohnern verbal angegriffen worden. „Sag mal Pápa, bist du sicher, dass die Deutschen am Ende dir nicht eine riesige Rechnung für ihre Arbeit präsentieren?!“ war noch das Harmloseste. Das Rumoren im Dorf führte schließlich zu dem Gerücht wir hätten das „Hochzeitskleid“ geklaut (das Highlight der Sammlung). Das sogenannte Hochzeitskleid, ein beigefarbenes Seidenkleid nach der Mode um 1900 im „japanischen Stil“ geschneidert, hatten wir in der Inventarliste als „Abendkleid“ angegeben, und dazu vermerkt „wahrscheinlich nach Pariser Mode in der Türkei gefertigt“ (Smyrna/Izmir war zur damaligen Zeit das Modezentrum der ganzen Region). „Unser Hochzeitskleid soll TÜRKISCH sein?! Und überhaupt, wenn das ein Abendkleid ist, wo ist denn dann unser Hochzeitskleid geblieben? Das haben die geklaut!!“ hieß es und: „Die Deutschen haben unser Hochzeitskleid geklaut“ machte die Runde durchs Dorf, und der Pope sei schuld, weil er uns ins Museum gelassen hatte.
“Da fahren wir nicht wieder hin!”
Nicht weniger heftig waren die Reaktionen der Gruppe nach meiner Rückkehr in Deutschland. „Wenn die behaupten, wir hätten das Hochzeitskleid geklaut, können wir da nicht wieder hinfahren! Als Dieb bezeichnet zu werden kann ich nicht auf mir sitzen lassen!“ Nach langen aufgewühlten Diskussionen war die Mehrheit aber dafür, wieder ins Dorf zu fahren “… sonst würden wir den Eindruck ja bestätigen, dass wir das Hochzeitskleid geklaut haben!“ Als ich dann im Sommer vor der Gruppe wieder ins Dorf kam, erzählte ich dem Popen im Kafeneion vom Entsetzen der Gruppe über diesen Vorwurf und dass einige deshalb nicht wiederkommen wollten. Die Reaktion kam prompt. Wir sollten dieses Gerücht und das dumme Geschwätz von einigen Dorfbewohnern nicht ernst nehmen und natürlich sei das Dorf froh und glücklich über unsere Initiative das Museum herzurichten und dankbar, dass wir eine so gute Arbeit machen würden! Und in der Folge wurden die Gruppe und ich, wo immer in den Gassen uns jemand sah, angesprochen, wie gut unsere Arbeit im Museum sei und dass jeder dankbar wäre, dass wir da seien. Nun war das Museum in aller Munde.
Das Museum als “außerschulischer Lernort”
Parallel dazu hatten sich in der Realschule ebenfalls Ideen entwickelt, wie die Schule das Museum als „außerschulischen Lernort“ in das Curriculum des Heimatkundeunterrichts integrieren könnte. Die Lehrerin für Heimatkunde führte einen Teil ihres Unterrichts, mit Genehmigung des Popen, im Museum durch. Auf ihren Elternabenden stellte sie die neue Möglichkeit vor, mit dem Museum zu arbeiten. Sie studierte mit den Schülerinnen und Schülern ein Volkslied ein, dass sie – aufgenommen als Videofilm – im Museum sangen. Der Film wurde bei der nächsten Schuljahresabschlussfeier im Juni auf der Plateia vor dem Museum, auf einer großen Leinwand gezeigt und mit Begeisterung aufgenommen.
Nach vier Aufenthalten der Gruppe in Filia von 2016-19 ist das Projekt Museum Filia an der U3l nun beendet. Was nicht heißt, dass auch die Arbeit am und im Museum beendet ist. Sie muss weitergeführt werden, aber jetzt von den DorfbewohnerInnen, allen voran Pater Simeon und der Lehrerin Georgia. Mittlerweile engagiert sich auch der Historiker Stratis Anagnostou für das Museum. Sein Spezialgebiet ist die Zeit des Übergangs vom Osmanischen Reich zum Nationalstaat Griechenland auf Lesbos, also genau die Zeit, die auch die Objekte im Museum abdecken. Wie es nun weitergeht, soll hier auf der Website des Museums dokumentiert werden.