von Ulrike Krasberg
Wenn man bei Google-Maps den Satellitenblick auf Filia wählt, fällt zuerst das riesige weiß schimmernde Rechteck des Fußballplatzes ins Auge. Etwas unverhältnismäßig für ein Dorf von mittlerweile nur noch 650 Einwohnern (1980 waren es noch knapp eintausend). Der Platz liegt etwas außerhalb des Dorfes, dessen dicht an dicht gedrängten Häuser und engen Gassen aus der Satellitenperspektive gut erkennbar sind.
Dorf und Felder sind in alle vier Himmelsrichtungen mit einer letzten Reihe Häuser geschieden. Der Hauptplatz des Dorfes, die agorá, ist von oben kaum auszumachen, wird von einer riesigen Platane fast vollständig überdeckt und ist im Übrigen auch ziemlich klein. Die agorá oder plateia (der Hauptplatz von Filia) ist das öffentliche Wohnzimmer des Dorfs. Wohnzimmer, weil die Männer im Dorf ihren Aufenthaltsort eher auf der agorá und in den beiden Kafeneia am Platz sehen als in ihrem Zuhause. In den 80er Jahren noch mieden die älteren Frauen grundsätzlich die agorá und wählten einen Umweg durch die Gassen, wenn sie auf die andere Seite des Platzes mussten.
Die Agora als Bühne
Kommt man heute mit dem Auto ins Dorf, stellt sich immer noch die Frage: hinten rum oder über die agorá? Allerdings weniger aus Schicklichkeitsgründen, eher um dem Tratsch im Dorf ein wenig zu entgehen. Die agorá ist nicht nur Wohnzimmer sondern auch Bühne, denn hier spielt sich das öffentliche Leben ab. Jedes Auto, das sich über den Platz schiebt, fast in „Tuchfühlung“ mit Tischen und Stühlen, und seine Insassen werden von den Umsitzenden sofort identifiziert und auf Rückschlüsse des woher und wohin abgecheckt. Andererseits ist es der Ort, an dem man sich als zugehörig und wichtig präsentieren kann. Und das ist nicht nur für die von Bedeutung, die das ganze Jahr über im Dorf leben, sondern auch für die, die nur im Sommer zum Familienbesuch kommen und ansonsten in Athen oder im Ausland leben. Man lässt sich sehen. Und wer mit wem zusammensteht oder zusammensitzt, lässt Rückschlüsse zu, auch wenn das Gespräch nicht verfolgt werden kann. Hier kann „Gesellschaftspolitik“ inszeniert werden. Pope und Bürgermeister erscheinen jeden Abend, um zu einer Art dörflichen „Bürgersprechstunde“ zu Verfügung zu stehen. Und die Handwerker im Dorf trifft man hier am sichersten, wenn ein Arbeitsauftrag vergeben werden soll.
Mittlerweile treffen sich aber auch im konservativen Filia die Frauen im Kafeneion. Sonntags nach der Kirche haben sie ihren Frauenstammtisch. Wer von den Frauen im Dorf mitreden will, findet sich hier ein und den älteren Männern bleibt nur, sich damit abzufinden. Die jüngeren sehen darin einen gewissen sozialen Fortschritt.
Das Dorf ist weiblich
Dörfer wie Filia scheinen nach wie vor von Männern dominiert zu sein, zumindest auf der agorá kann man diesen Eindruck immer noch bekommen. Der Eindruck aber täuscht. Frauen spielten und spielen in der bäuerlichen Gesellschaft tatsächlich immer eine tragende Rolle. Die Ideologie des Patriarchats verwies sie aber stets auf den zweiten Platz. Die Töchter bekamen zur Hochzeit das in der weiblichen Linie weiter vererbte Familienhaus. Der Ehemann zog zur Frau, mitunter in ein anderes Dorf. Scheiterte die Ehe, musste er wieder ausziehen. Da jedes Haus und jeder Haushalt als solcher als Inbegriff des Lebensbereichs der Frau gesehen wird, kann man sagen, dass der größte Teil eines Dorfs (die Wohnhäuser) weiblich ist. Die das Dorf umgebenden landwirtschaftlichen Flächen – vor allem die Bergweiden für Schafe und Ziegen – dagegen sind männlich. Und eben auch die agorá und andere öffentliche Plätze und Straßen im Dorf.
Das kosmopolitische Dorf…
Schon Anfang/Mitte des 20. Jahrhunderts setzte eine Auswanderungswelle aus dem Dorf ein. Neben den USA und Australien war auch Venezuela ein beliebtes Auswanderungsziel. Die Familien hielten Kontakt zum Dorf (manche Ehe wurde hier geschlossen), und die im Ausland wohlhabend Gewordenen spendeten immer wieder für öffentliche Einrichtungen im Dorf. Eine Familie aus Venezuela gründete eine Stiftung, die vor allem die Realschule im Dorf finanziell unterstützt. Als sich ein Ende mit Schrecken der Chaves-Regierung in Venezuela abzeichnete, beschloss ein Zweig der Familie, ihren Reichtum nach Griechenland zu transferieren. Nachdem sie eine Weile sowohl in Griechenland als auch in Venezuela ihre Geschäfte verfolgte, hat sie sich jetzt mehr oder weniger nach Griechenland zurückgezogen und nutzt ihre Häuser im Dorf nicht mehr nur als Ferienhäuser.
In fast allen Familien im Dorf gibt es Mitglieder, die für eine Weile oder für immer ins europäische Ausland gezogen sind, um dort zu arbeiten. Die Mehrheit von ihnen ist nach Griechenland zurückgekehrt, zumindest nach Athen, einige auch ins Dorf oder in die nur wenige Kilometer entfernt liegende Kreisstadt Kaloni, um sich mit dem in Europa ersparten Geld eine Existenz aufzubauen. So kann Filia durchaus als „kosmopolitisches Dorf“ bezeichnet werden, das viele enge Familienbindungen in alle Welt hat, von Tasmanien über Venezuela bis nach New York und natürlich nach Europa.
…pflegt seine Traditionen
Die Dorfbewohner, die das ganze Jahr über in Filia leben, halten für die „Ausgewanderten“ die Traditionen aufrecht, sodass die im Ausland oder in Athen Lebenden einen Ort haben, den sie als Heimat bezeichnen können, in dem sich das Leben mehr oder weniger immer noch so abspielt, wie sie es in Erinnerung haben, und in das sie Jahr für Jahr wieder eintauchen können. In diesem Zusammenhang spielt auch das Heimatmuseum von Filia eine Rolle. Hier wird all das aufbewahrt, was aus heutiger Sicht den Charme des Lebens des vergangenen Jahrhunderts ausmacht.
Tourismus in Filia?
Allerdings wird es für die Daheimgebliebenen immer schwieriger ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wohnen und Ernährung sind durch die Hausmitgift und die Subsistenzwirtschaft im eigenen Garten und mit den eigenen Tieren zwar gesichert, eine Arbeit außerhalb der Land- und Viehwirtschaft ist aber schwer zu finden und wenn, dann nicht im Dorf. Das nächstliegende ist, sich einen Job in der Touristenbranche zu suchen, oder wenn möglich selbst eine Urlaubspension in den Touristenorten an der Küste zu eröffnen. Um den in Filia Zurückgebliebenen Arbeitsplätze zu verschaffen, wäre es nötig, auch Filia dem Tourismus zu öffnen. Einen „sanften Tourismus“ für Menschen im höheren Alter, die Ruhe möchten, keine Disko am Strand, sondern lieber in den Bergen der Insel wandern, Klöster besuchen, die „heilige Ruhe“ in den überall in der Landschaft verstreut liegenden Kapellen genießen möchten. Und abends mit den Einheimischen auf der agorá Wein und Ouzo trinken und die traditionelle Küche in Meni‘s Kafeneion genießen. Leer stehende Häuser im Dorf, die als Gästehäuser hergerichtet werden könnten, gibt es genug.