von Ulrike Krasberg
Filia, ein Bergdorf auf der Insel Lesbos. Eins von denen, in die Touristen nur zufällig kommen, wenn sie auf der Straße von Molivos und Petra, den bekannten Urlaubsorten auf der Insel, auf ihrem Weg nach Sigri zum UNESCO Weltkulturerbe „Versteinerter Wald“ unten an der Kreuzung falsch abbiegen.
Sie landen auf dem Dorfplatz und stellen ihren Billy’s Leihwagen vielleicht ab auf dem kleinen Parkplatz hinter der Plateia, um bei Meni im Kafeneion einen Kaffee zu trinken – wenn sie schon mal da sind. Filia hat kein Hotel, noch nicht mal eine Privatpension oder ein Restaurant. Es ist ein ganz gewöhnliches Bauern- und Schäferdorf. Bürgermeister und Pope sind sich einig: Filia ist für den Tourismus nicht geeignet. Man bleibt also unter sich.
Das Museum an der Plateia
Es ist Anfang September, die riesige Platane auf dem Hauptplatz des Dorfes, lässt schon erste braune Blätter fallen, aber tagsüber ist es so warm, dass noch Sommerkleidung angesagt ist. An den Tischchen auf dem Platz sitzen die Männer, die, nachdem sie frühmorgens ihre Schafe in den Bergen mit Wasser versorgt haben, nun einen Kaffee brauchen, bevor sie ihre nächste Arbeit als Handwerker, Lebensmittelhändler oder was auch immer beginnen.
„Rumms!“ Die Kaffeehausgäste auf der Plateia verstummen und schauen in die Höhe auf die geöffneten Fenster der alten Villa am Platz, von wo der Schlag zu hören war. Bis dahin ertönten von dort Stimmen und Geräusche der Geschäftigkeit. Jetzt auch dort: plötzliche Stille. Die Villa beherbergt das Heimatmuseum des Dorfes, dessen Objekte – Dinge des täglichen Lebens der letzten hundert Jahre – eine Gruppe deutscher Pensionärinnen und Pensionäre zu einer Dauerausstellung neu zusammenstellt. Die Männer, die täglich an den Kaffeehaustischen auf dem Platz vor dem Museum sitzen, sind sich nicht sicher, ob es eine so gute Idee war, „den Deutschen“ diese Arbeit zu überlassen. Was, wenn nach deren Abreise, das eine oder andere gute Stück in der Sammlung fehlt? Oder wenn was kaputt geht? Der Schlag jedenfalls lässt Böses ahnen. Meni, die Wirtin eines der Kaffehäuser am Platz, hat ihn auch gehört und ist vor die Tür getreten. Jetzt ertönen aus der Villa Gelächter und Stimmengewirr. Die Besucher unten wenden sich wieder ihren Kaffetassen zu. War wohl nicht so schlimm. Auch Meni geht wieder hinein.
Ohne Meni geht fast nichts
Meni ist über siebzig, klein, zierlich, immer schwarz angezogen, den Kopf voll grauer Locken. Wenn sie zu ihren Tischen auf dem Platz eilt, um Bestellungen aufzunehmen, rudert sie energisch mit den Armen. Meni und ihr Kafenion sind die Anlaufstelle im Dorf für alles und jeden. Sie weiß, wer für welches Problem im Dorf angesprochen werden muss. Und Meni war auch diejenige, die half, die Exkursion der Deutschen zur Arbeit im Museum im Dorf zu organisieren. Das bedeutete vor allem, für jede und jeden einen Schlafplatz in einem Privathaushalt im Dorf zu finden und die Gruppe abends zu bekochen. Das war für Meni das kleinste Problem, schließlich ist sie auf der ganzen Insel bekannt für ihre hervorragenden Kochkünste.
Tücken des alten Gemäuers
Oben in der Villa stehen die Damen jetzt um eine alte Wanduhr herum. Sie hat den „Uhr-Knall“ verursacht, als sie von der Wand fiel. Der Nagel, an dem sie hing, steckte nicht fest genug in der Wand. Die alten Wanduhren aus der Sammlung, die in dieser Ecke des Raums gezeigt werden sollen, waren gerade provisorisch an Nägel gehängt worden, die schon in der Wand steckten. In diesem alten Haus einen Nagel in die Wand zu schlagen ist ein größeres Unternehmen. Entweder der Nagel trifft einen der Feldsteine, mit denen die Wände errichtet wurden, dann krümmt er sich sofort, oder er trifft den Zwischenraum aus Lehm und Stroh, dann verschwindet er so schnell in der Wand wie er auch wieder heraus rutscht. Letzteres war mit dem Nagel, an dem die Wanduhr aufgehängt worden war, passiert, zum Glück ohne die Uhr zu beschädigen.
Fast keins der Objekte der Sammlung ist ohne Gebrauchsspuren. Sie sind auch keine sogenannten Spitzenstücke, auf die Museen so stolz sind, also unbeschädigt und von herausragender handwerklicher Qualität. Es sind Gegenstände, wie sie in den letzten 100 Jahren überall in den Haushalten, den wohlhabenden und ärmeren, zu finden waren. Und nicht nur diese Gegenstände erzählen Geschichten, auch das zweihundertjährige Gebäude, indem das Museum jetzt aufgebaut wird, trägt viele Geschichten in sich.
Der Fluch
Irini kommt die Außentreppe zum oberen Stockwerk herauf, etwas schnaufend, ob ihrer Leibesfülle. „Eigentlich wollte ich ja nie wieder dieses Haus betreten!“ ruft sie auf Deutsch den Damen im Museum entgegen (sie hat lange in Offenbach am Main gelebt). „Aber ich muss doch mal schauen, was ihr hier macht!“ fügt sie hinzu. „Ihr wisst ja nicht, dass dieses Haus verflucht ist.“
„Waaas?! Du meine Güte!“ Gerda ist entsetzt. „In ein Museum, das mit einem Fluch belegt ist, kommt doch kein Mensch! Da können wir unsere Arbeit auch gleich sein lassen!!“
Irini strahlt, da hat sie eine schöne Bombe losgelassen.
„Erzähl!“ wird sie nun bedrängt. „Was hat das mit dem Fluch auf sich?“
„Also“, Irini lässt sich auf einem Stuhl nieder. „Die Familie Karagianopoulos, der das Haus hier gehörte, war stinkereich. Ihr gehörte seit Generationen das ganze Land rund um das Dorf. Die Bauern, die es bewirtschaftet haben, mussten ihr Pacht bezahlen. Außerdem hatte Giorgos Karagianopoulos den einzigen Laden im Dorf, der war hier unten im Haus. Bei ihm konnte man auch anschreiben lassen, wenn am Monatsende das Geld knapp war. Das hat er dann in ein dickes Buch eingetragen. Wenn die Leute bezahlt haben, hat er aber den Eintrag nicht gestrichen, und das nächste Mal mussten sie die alten Schulden noch mal bezahlen. Einer aus dem Dorf, dem das ein paar Mal passiert ist, hat ihn dann verflucht. So…“ sie bläst über ihren erhobenen Handteller. „Auch andere haben ihn verflucht, weil seine Frau, die extrem geizig war, einem armen kleinen Mädchen, das um ein Stück Brot an ihrer Haustür gebettelt hatte, nichts gegeben hat. Jedenfalls ist die Familie wegen dem Fluch ausgestorben, es gab keine Kinder, keine Nachkommen mehr. Deshalb hat der Giorgos das Haus auch der Kirche vermacht!“
„Das ist nur für die Reichen!“
Zufrieden über die Wirkung ihrer Geschichte, lässt sich Irini aber dann noch die Kleider zeigen. Phantastische Seidenkleider aus der Zeit um 1900, Pariser Mode, die die Damen der Familie Karagianopoulos zu festlichen Anlässen trugen und die nun zur Sammlung des Museums gehören, ebenso wie die Unterwäsche aus feinem Leinen mit üppiger handgearbeiteter Lochstickerei versehen. „Sowas konnte keine Frau aus dem Dorf tragen, noch nicht mal diese Unterwäsche, obwohl viele Frauen Lochstickerei machen konnten!“ kommentiert Irini die schon auf Puppen ausgestellten Kleidungsstücke.
Es kommt noch schlimmer
Die Gruppe diskutiert tagelang über den Fluch und wie damit umzugehen sei. Aber es sollte noch dicker kommen. Ein paar Tage später erzählen die Männer auf der Plateia vom Bürgerkrieg, der Griechenland nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1949 erschütterte. Auch unter ihnen gibt es jemanden, der das Museumsgebäude nie wieder betreten will, aber nicht wegen des Fluchs, sondern weil in den Räumen gefoltert wurde.
„Damals war das Dorf dominiert von den Rechten und es gab immer wieder Denunzianten. Mein Vater wurde wegen eines Nachbarschaftskonflikts angeschwärzt. Da oben haben sie ihn gefoltert. Jedes Mal, wenn gefoltert wurde, haben sie die Dorfkappelle zusammengetrommelt. Die musste dann im Kafeneion gegenüber – da wo heute der Metzger Giorgos seinen Laden hat – spielen. Und anschließend haben sie meinen Vater da die Treppe herunter geworfen. Er hat sich davon nie wieder richtig erholt!“
„Diese Geschichten, die das Haus in sich trägt, sind kein Grund, die Arbeit am Museum nicht weiterzuführen“, versuchte Ulrike ein Fazit zu formulieren. „Das Museum kann die Geschichten aufbewahren, dass sie nicht in Vergessenheit geraten und sie in gewisser Weise „objektivieren“, indem sie sie in den größeren Lauf der Geschichte einordnet. Ja, die Menschen hier im Dorf haben gelitten, gelitten aber auch an den Bedingungen der Zeit. Opfer und Täter sind Kinder ihrer Zeit. Das soll die persönliche Verantwortung jedes einzelnen nicht in Abrede stellen. Aber die Geschehnisse in einem größeren historischen Rahmen zu sehen, kann Hass und Wut mildern. Dazu können wir mit dem Museum einen Beitrag leisten. Das Museum muss ein Erinnerungsort für die Menschen im Dorf werden. An die erinnern, die hier gelebt haben und für die junge Generation ein Lernort werden über ihre Geschichte, über ihre Wurzeln.“
Therapi hilft beim Katalogisieren
Schließlich wird beschlossen, sich von Flüchen und Folter nicht beirren zu lassen. Und auch die meisten der Dorfbewohner scheinen dem Wissen um die Vergangenheit des Hauses eher gelassen umzugehen. Jedenfalls gibt es immer wieder den einen oder anderen Kaffeehausbesucher auf der Plateia, der bereit ist, bei den Arbeiten im Museum zu helfen. Therapi zum Beispiel. Er kommt fast täglich und hilft vor allem dabei die Objektfotos zu machen, die für die Katalogisierung des Gesamtbestands der Sammlung notwendig sind. Der besseren Lichtverhältnisse wegen werden viele Objekte vor dem Museum auf der Plateia fotografiert. Ein besonderes Amüsement für die Kaffeehausbesucher auf dem Platz ist das Fotografieren der bestickten Damenunterwäsche, bei dem sich Therapi es sich nicht nehmen lässt, die für heutige Verhältnisse riesengroßen Damenunterhosen in die Kamera zu halten.
Professionellen Eindruck dagegen macht die „IT-Abteilung“ der Gruppe, bestehend aus zwei kompetenten Computerspezialisten. Diese haben ihren Arbeitsplatz ebenfalls auf der Plateia und digitalisieren dort Stück für Stück der Sammlung. Für alle sichtbar ist auch der Pope als oberster Verwalter des Museums im Namen der Kirche. Er und seine Frau sind täglich im Museum, um die Arbeit der Gruppe zu beaufsichtigen.
……und doch kommen Besucher ins Museum
So kommen trotz Fluch und Folter immer wieder Besucher aus dem Dorf ins Museum, um zu sehen, was die Deutschen dort machen. Die Frauen bringen oft selbst gebackene Plätzchen mit „Als Dank für eure Arbeit!“ und versichern, dass sie die Initiative gut finden. Und dann entdecken sie Dinge, die sie kennen. Auf einer Puppe ist ein schwarzer, sehr schön gearbeiteter Mantel zu sehen. „Oh, den kenne ich! Den hat Maria Karagianopoulou immer im Winter getragen, wenn sie sonntags in die Kirche ging!“ Das ist die Gelegenheit nach Geschichten zu fragen, die mit den Objekten verbunden sind. Kostas, der ehemalige Taxifahrer vom Dorf, bleibt vor einem Foto stehen, auf dem eine Gasse im Dorf zu sehen ist, in der ein Auto steht, das gerade mit Koffern beladen wird. Im Hintergrund tritt ein junges Paar aus der Tür eines Hauses, rundherum stehen etliche Männer, Frauen und Kinder. „Weißt du wer die Leute auf dem Foto sind?“ fragt Ulrike. Kostas lacht: „Natürlich! Das ist ja mein Taxi. Das junge Paar dort auf dem Foto hat im Dorf geheiratet und will nun wieder nach Kanada reisen. Ich habe sie Zuhause abgeholt und zum Flughafen gebracht. Mit dem Taxi habe ich dich doch auch oft zum Flughafen gebracht, erinnerst du dich nicht?“ fügt er hinzu. Kostas freut sich, auch seine Existenz im Dorf hat seinen Platz im Museum gefunden.
Ins Dorf kommen auch immer wieder türkische Besucherinnen und Besucher auf der Spurensuche nach ihren Familien, die einst in Filia gelebt haben. Als das Dorf und die Insel noch zum Osmanischen Reich gehörten, waren die Einwohner Christen und Muslime, sprachen Türkisch und Griechisch. 1922 nach dem griechisch-türkischen Krieg mussten die Muslime das Dorf verlassen und die aus der Türkei vertriebenen Griechen nahmen im Dorf ihren Platz ein. Aber auch Griechen aus dem Dorf besuchen das gegenüber liegende türkische Festland, um zu sehen, wo ihre Vorfahren gelebt haben. Wenn Besucher aus der Türkei ins Museum kommen sind sie fasziniert und gerührt von der Atmosphäre, die das alte Haus und die vielen alltäglichen Gegenstände darin ausstrahlen.