Knochen für die Ewigkeit

von Ulrike Krasberg

„Xanthipi ist nicht zuhause, sie ist auf dem Friedhof! Sie lassen doch heute Petros exhumieren!“ Die Nachbarin steht in ihrem Hoftor. Sie hat mich vor Xanthipis Haus gesehen und gegen das Hoftor klopfen und rufen hören. Ich mache mich auf den Weg zum Friedhof, der etwas außerhalb des Dorfes liegt.

Lesbos Filia Friedhof Knochen Μουσείο Φιλιά Λέσβου
Exhumierte Knochen. Foto: U. Krasberg, 2018

Hinter der Friedhofskapelle, eingerahmt von zwei riesigen alten Eichen, sehe ich Xanthipi, ihre Schwester und zwei ihrer Freundinnen. Sie stehen vornüber gebeugt und schauen in eine große rote Plastikschüssel. Neben der Schüssel, in die Wasser aus einem Schlauch fließt, hockt ein älterer Mann, den ich nicht kenne. Versehen mit Gummistiefeln und Gummihandschuhen schrubbt er mit einer festen Bürste an einem Knochen. Es ist einer von Petros Oberschenkelknochen. In Erwartung dessen, was ich gleich sehen werde, hat sich mein Schritt verlangsamt. Doch Xanthipi hat mich bemerkt und kommt auf mich zugeeilt. Sie bricht in Tränen aus, als wir uns umarmen. „Nun wird er zum zweiten Mal beerdigt – für immer!“ schluchzt sie. Auch die anderen Frauen kommen mir entgegen und begrüßen mich. Der Mann führt unverdrossen seine Arbeit fort. Es ist sein Brotverdienst, Verstorbene nach fünf Jahren Grabesruhe zu exhumieren und die Knochen zu waschen. Er kommt aus einem anderen Dorf und bietet seine Dienste auf der ganzen Insel an.

„Schau mal, Petros Knochen sind ganz braun!“ Xanthipi deutet auf einige Knochen, die auf einer Grabplatte in der Nahe ausgebreitet in der Sonne zum Trocknen liegen. Als ich Petros Schädel sehe, schießen auch mir Tränen in die Augen. Die Nacktheit und die damit verbundene Intimität des Schädels und der Knochen sind schwer zu ertragen. Ich kannte Petros, Xanthipis ältesten Sohn, gut. Er starb mit 36 Jahren an einer plötzlichen, schweren Krankheit. Xanthipi macht es zu schaffen, dass die Knochen braun und nicht weißlich sind, wie es von einem Menschen, der ein gutes Leben geführt hat, zu erwarten ist.

„Petros war sehr krank! Die Ärzte mussten ihm viele starke Medikamente geben, das hat seine Knochen so braun gemacht!“ wird sie von einer der Freundinnen getröstet. Die andere nickt nachdrücklich.,“Das Braun der Knochen sagt nichts über Petros Leben aus! Petros war ein guter Junge, er hat nie jemandem etwas Böses getan, er war überall beliebt!“ fügt die Schwester bestimmt hinzu. Xanthipi senkt wortlos den Kopf und streichelt Petros Schädel.

Im Beinhaus. Foto U. Krasberg, 2015

Der Pope kommt in Begleitung von Xanthipis Mann, ihrem mittleren Sohn und ihrem Schwager auf den Friedhof. Die Frauen haben ein besticktes Leinentuch über die Knochen auf der Grabplatte gebreitet, damit die Männer sie nicht sehen müssen. Der Pope hält eine kurze Andacht und segnet Petros „unvergängliche“ Überreste, die Frauen halten brennende Kerzen in den Händen. Dann werden alle Knochen in ein mit Petros‘ Namen besticktes Leintuch gewickelt und in eine hölzerne Kiste gelegt. Xanthipi hat ihm auf dem Friedhof eine Gruft bauen lassen, in deren Aufbau die Kiste nun geschoben wird. Sie will nicht, dass seine Knochen ins Beinhaus  kommen und irgendwann von anderen Gebeinkisten zugestellt werden. Sie möchte ihn auf dem Friedhof in seiner Gruft besuchen können.

aus Ulrike Krasberg (2009): Wenn sich das Fleisch von den Knochen gelöst hat, ist das Sterben abgeschlossen. In: Ulrike Krasberg, Godula Kosack (Hg.): „…und was ist mit der Seele?“. Frankfurt/M: Lembeck. S. 53-68

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