Ein Projekt der Universität des 3. Lebensalters an der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Ulrike Krasberg (Hg.)
Brigitte Markgraf
Elisabeth Sauer
Frank Schabel
Ulrike Sindermann
2023
Einleitung
Ulrike Krasberg
„U3L-er[1] reisen gern!“
Und Meni, die Kaffeehauswirtin im Bergdorf Filia auf der griechischen Insel Lesbos, fragt:
„Wann bringst du denn mal wieder eine Gruppe ins Dorf? Corona ist doch jetzt vorbei!“
Mit der letzten Gruppe U3L-Studierender hatte ich während drei Aufenthalten im Dorf für das Heimatmuseum an der Agora, dem Hauptplatz im Dorf, eine Dauerausstellung gestaltet.
Schon Anfang der 1980er-Jahre hatte ich mich als forschende Ethnologin in Filia häuslich niedergelassen und mittlerweile bin ich Filianerin geworden, die den Winter in Deutschland verbringt und dort als Dozentin an der Universität des Dritten Lebensalters an der Goethe-Universität Frankfurt Seminare anbietet.
Die Insel Lesbos, in Griechenland meist Mytilini nach ihrer Hauptstadt genannt, ist ganz zweifellos eine griechische Insel mit griechischer Bevölkerung und griechischer Sprache. Aber historisch war die Insel mit ihrer im Osten liegenden Hauptstadt dem nahen türkischen Festland kulturell und wirtschaftlich stets mehr verbunden als mit dem im Westen weit weg liegenden Athen. Bis vor hundert Jahren waren Mytilini und auch die Nachbarinsel Chios Teil des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Einzugsbereichs von Smyrna, dem heutigen Izmir. Hüben und drüben lebten bis zum Ende des Osmanischen Reichs Christen und Muslime in enger Nachbarschaft oft Haus an Haus. Genauer: bis 1923, als Griechen und Türken entsprechend den neugegründeten Nationalstaaten auseinandersortiert wurden und ihre jeweilige Heimat gezwungenermaßen verlassen mussten. Mein Haus im Dorf gehörte einer muslimisch/türkischen Familie, das nach ihrer Vertreibung in die Türkei in griechischen Besitz überging.
Je länger ich im Dorf lebe, desto mehr fällt mir auf wie viele kulturelle Reminiszenzen aus der osmanischen Zeit im heutigen Alltagsleben noch lebendig sind und sich in sprachlichen Begriffen, Ortsnamen, traditionellen Speisen aber auch in der Architektur vieler alter Häuser auf der Insel ausdrückt. Wie überall in Griechenland bezieht sich heute die offizielle nationale Identität Griechenlands auf die Antike. So sehen sich auch die Einwohner Filias als Nachfahren Homers und Sokrates, und mit großer Selbstverständlichkeit wird das Osmanische Reich als „500 Jahre der Unterdrückung durch die Türken“ bezeichnet. Andererseits wird im Dorf stets betont, dass die muslimischen Einwohner gute, friedliche Nachbarn waren. Sie hatten ihre Moschee, das hamam und ihren Friedhof, so wie die Christen ihre Kirche und ihren Friedhof. Und all das gehörte zum Alltag im Dorf, war nicht weiter erwähnenswert. So wird die bis heute keineswegs verfallene Moschee im Dorf nicht als Symbol der Unterdrückung durch die Türken gesehen, sondern als die Moschee von Filia, „unsere“ Moschee.
Im Wintersemester 2022/23 bot ich in der U3L ein Seminar an, „Griechenland und das Osmanische Reich – am Beispiel der Insel Lesbos.“ In der immer noch anhaltenden Flüchtlingskrise, in der Lesbos als weltweit bekannte Flüchtlingsdestination einen sehr negativen Ruf hat, schien es mir naheliegend in einem Seminar der jüngeren (osmanischen) Geschichte der Insel und stellvertretend des Dorfs Filia nachzugehen. Vor hundert Jahren nämlich hatte die Insel schon einmal eine furchtbare Flüchtlingstragödie erlebt, als Smyrna im griechisch-türkischen Krieg (1919 bis 1922) brannte und hunderttausende Griechen, die dort ihre Heimat hatten, über das Meer flüchten mussten. Viele Vorfahren der heutigen Einwohner Filias konnten sich damals während der megali katastrofia (Kleinasiatische Katastrophe) auf die Insel retten.
Die Region Smyrna, die nicht nur die Küstenregion bis hinauf nach Ayvalik umfasste, sondern auch die Inseln Mytilini und Chios, gehörte bis Ende des 19. Jahrhunderts als Teil des Osmanischen Reichs kulturell und wirtschaftlich mit seiner griechischen und kosmopolitischen Bevölkerung zu den fortschrittlichsten und blühendsten Regionen des Osmanischen Reichs.
Dieses Seminar war auch die Vorbereitung für eine Exkursion nach Filia. Für den Aufenthalt hatten wir uns vorgenommen zu schauen, ob sich Spuren dieser osmanischen Vergangenheit im heutigen Dorf noch finden lassen und wie sich das Leben in den nunmehr europäischen Zusammenhang hinein entwickelt hat. Lesbos ist erst 1920, hundert Jahre nach Gründung des griechischen Nationalstaats im Jahr 1821 Teil des griechischen Staats geworden.
Wie bei den vorhergehenden Exkursionen kam die Gruppe im Rahmen der Kooperation zwischen U3L und der Realschule (gymnasio) in Filia ins Dorf. Die U3L kooperiert im Rahmen der Erwachsenenbildung in Deutschland mit ähnlichen Einrichtungen im europäischen Ausland und in diesem Fall ist es die Realschule von Filia. Die Leiterin des Kalfagianneia-Gymnasio in Filia, Georgia Kokkinogeni, war in die Planung und Organisation der Exkursion eingebunden, so wie schon bei den vorhergehenden Exkursionen zum Aufbau der Dauerausstellung im Heimatmuseum. Ziel war es diesmal, die jüngere osmanische Geschichte des Dorfs gemeinsam mit den jugendlichen Schülern Georgias zu erkunden.
Die Gruppe der U3L-er bestand aus fünf Studierenden, die Mitte Mai 2023 ins Dorf reisten: Elisabeth Sauer und Brigitte Markgraf, pensionierte Lehrerinnen, kennen Griechenland von vielen Reisen nach Kreta, und Elisabeth spricht auch ein wenig Griechisch. Frank Schabel, der regelmäßig nebenberuflich seinen journalistischen Interessen nachgeht und Kreta ebenfalls gut kennt, Alexandra Lucescu-Ruck, Rumänien-Deutsche, die schon lange in Deutschland lebt, sich die Liebe zu Südosteuropa bewahrt hat und seit ihrer Kindheit auch Griechisch spricht und Uli Sindermann, gelernte Ethnologin, die mit ihrem türkischen Ehemann lange in Istanbul lebte. Da Filia keinerlei touristische Infrastruktur hat, waren alle privat untergebracht, verteilt auf mehrere Häuser im Dorf. Meni vom Kafeneion kochte für die Gruppe und bei ihr konnte auch gefrühstückt werden.
Wie bei den vorhergehenden Exkursionen war auch für diese Gruppe im Vorfeld die Frage wichtig, wie die TeilnehmerInnen mit den Dorfbewohnern kommunizieren sollen, ohne die griechische Sprache zu beherrschen. Tatsächlich stellte dies aber nie ein größeres Problem dar. Viele Dorfbewohner haben in den USA, Australien oder Deutschland gearbeitet. Interviews konnten also in Englisch oder Deutsch geführt werden. Und immer wieder stellten sich ehemalige Arbeitsmigranten als ÜbersetzerInnen zur Verfügung. Auch die älteren Schülerinnen und Schüler des Kalfagiannea-Gymnasio konnten so viel Englisch oder auch Deutsch, dass sie bei den gemeinsamen Aktivitäten mit unserer Gruppe sprachlich helfen konnten.
Georgia Kokkinogeni gestaltet mit ihren Schülerinnen und Schülern im Fach Heimatkunde regelmäßig Unterrichtseinheiten zur Geschichte des Dorfs. Dabei spielt der vom osmanischen Sultan in Filia eingesetzte Lehnsherr, Evstratios Karagiannopoulos, eine bedeutende Rolle. Eine seiner Aufgaben war es, Steuern in Form von Naturalien von den Dorfbewohnern für den Sultan in Konstantinopel einzuziehen und er war berechtigt einen Teil davon für sich zu behalten. Im Gegenzug dazu musste er für die Infrastruktur des Dorfs sorgen. Das tat er, indem er zum Beispiel eine Schule im Dorf bauen ließ und die Lehrer bezahlte (dieses Gebäude ist heute das gymnasio). Da er mit den über die Steuer eingezogenen Naturalien auch Handel betrieb, war sein Vermögen durchaus beträchtlich, noch heute erkennbar daran, dass er etliche der für die damalige Zeit prächtigen Häuser im Dorf besaß. Zum Transport der landwirtschaftlichen Produkte ließ er unten am Meer in einer Bucht, die zum Dorf oben in den Bergen gehört, einen Hafen mit zwei großen Speichergebäuden errichten. Vor hundert Jahren gab es für den Warenverkehr auf der Insel noch keine Straßen. Alle Güter mussten per Schiff außen herum um die Insel transportiert werden.
Auf einer Tagesexkursion zusammen mit Georgia und ihren Schülern zu dem noch vorhandenen stattlichen Sommeranwesen der Familie des Lehnsherrn in der Nähe der Bucht passierte ein Sprachmissverständnis, das Brigitte in ihren Tagebuchnotizen festhielt:
„Als wir uns am Donnerstag mit Georgia und ihren SchülerInnen am Strand trafen, deutete sie auf eins der großen, schon leicht verfallenen Gebäude nahe am Strand und erzählte uns auf Griechisch seine Geschichte. Aus dem, was die etwas Griechisch Kundigen von unserer Gruppe verstanden, konstruierten wir alle miteinander folgende Geschichte: Das Haus diente für in Seenot geratene Seefahrer. Darin sei für diese eine Apotheke eingerichtet gewesen, um sie zu versorgen. Ausgangspunkt war das Wort „apothiki“, was auf Deutsch „Speicher“ oder „Lager“ bedeutet, was wir aber als „Apotheke“ verstanden (Apotheke heißt auf Griechisch „farmakia“). Daraus wurde dann das weitere konstruiert. Als Elisabeth Georgia fragte, ob dort wirklich eine Apotheke untergebracht gewesen sei, schaute sie diese nur verständnislos an und Elisabeth dachte, Georgia hätte ihr geradebrechtes Griechisch nicht verstanden. Wir erzählten Ulrike, was wir gehört hatten. Sie war sehr irritiert „…das kann nicht sein!“ und fragte bei Georgia nach. Das Gebäude war ein Lager- oder Speicherraum, in dem Weizen, Tabak, und Eicheln bis zum Abtransport gelagert wurden. Die Eicheln wurden jedes Jahr von DorfbewohnerInnen als Steuerabgabe an den Lehnsherrn gesammelt und von diesem an eine Gerberei auf der Insel verkauft zum Färben und der weiteren Verarbeitung von Leder.“
Die Gruppe sollte während ihres Aufenthalts gemeinsam mit Georgias SchülerInnen der Frage nachgehen, welche kulturellen Aspekte der osmanischen Zeit am Beispiel des Lehnsherrn und seiner Familie noch heute im Alltagsleben der Dorfbewohner zu finden sind, nicht nur als historische Artefakte, sondern als Teil heutiger Lebensrealität. Für die SchülerInnen war der Inhalt ihres Heimatkundeunterrichts die Frage „Was sind unsere kulturellen Wurzeln?“ Die Gruppe der U3L-Studierenden mit ihrem Blick von außen auf das Dorf hatte noch eine weitere Fragestellung: Was sind die Folgen der Nationsgründung Griechenlands vor gut zweihundert Jahren, als nationale Grenzen und nationale Identitäten festgelegt wurden, die die ursprünglich homogenen Regionen durchschnitten und auseinanderrissen.
Darüber hinaus wollten die Gruppenmitglieder aber auch individuellen Fragestellungen in Bezug auf das Dorf nachgehen. So interessierte sich Elisabeth für die orthodoxe Friedhofs- und Beerdigungskultur, Frank fragte Dorfbewohner über Schafhaltung und -zucht früher und heute aus, Alexandra widmete sich dem Umgang zwischen den Dorfbewohnern in sozialen Beziehungen, Brigitte führte zusammen mit Elisabeth ausführliche Lebenslaufinterviews und Uli erforschte die Geschichte der Moschee in Filia. Die Ergebnisse dieser kleinen Forschungen sind hier zusammengefasst.
Erste Eindrücke vom Dorf
Brigitte Markgraf
Die Plateia ist ein kleiner Platz im Zentrum des Dorfs. Ich sitze mit einer Tasse Kaffee sketo (schwarz) und einem Glas Wasser vor Menis Kafeneion. Gegenüber das ehemalige Kontor der Familie Karagiannopoulou, in dem sich heute das Heimatkunde-Museum befindet, daneben das Eingangstor zum Kirchhof. Auf dem Platz stehen Tische und Stühle der beiden Kafeneia, in der Mitte fahren Autos und Mopeds durch. Gegenüber dem Museum befindet sich ein Lebensmittelladen. Im Zentrum des Platzes steht eine riesige Platane, die angenehm kühlen Schatten spendet.
Eben kommt ein Fischhändler mit seinem Pickup, von dem er seine Ware verkauft. Später bietet eine Roma von einem hochrädrigen Karren Kleidung zum Verkauf an. Eine Kindergruppe mit ihren Fahrrädern versammelt sich vor dem Lebensmittelladen. Sie kaufen Eis und Chips. Als ich kam, war ich noch die einzige Kaffeetrinkerin auf dem Platz. Inzwischen sitzen drei alte Männer an verschiedenen Tischen, trinken, rauchen. Einer beschäftigt sich mit seinem Smartphone, die anderen schwätzen gelegentlich, miteinander oder mit Vorübergehenden.
Abends füllen sich die beiden Kafeneia drinnen und draußen mit Männern. An einem Tisch am Fenster in Menis Kafeneion findet sich eine Gruppe zum Kartenspielen ein. Frauen habe ich nur am Sonntagabend zum Essen gesehen in Gesellschaft ihrer Männer.
Neben dieser Plateia, die auch Agora genannt wird, gibt es noch einen weiteren Platz, nur wenige Häuser weiter die Hauptstraße hinunter. Auch hier gibt es ein Kafeneion, außerdem einen Bäcker, ein weiteres Lebensmittelgeschäft, einen Metzger und eine Kapelle, dem Heiligen Nikolaus gewidmet. Etliche Autos nutzen diese Plateia als Parkplatz.
Die Häuser im Dorf stehen dicht an dicht, meist alt und klein. Die Höfe sind von hohen Mauern umgeben, mit großen Hoftoren. Stehen sie offen, sieht man die Blumenpracht in den Höfen. Auffällig sind die großen neuen Betonhäuser. Sie stehen hier und da zwischen den alten, kleinen Häusern. Auch leerstehende, langsam verfallende Häuser findet man in den Gassen.
Nicht weit von der Kirche entfernt befindet sich die noch halbwegs erhaltene Moschee mit ihrem Minarett. Im Moscheehof, der völlig mit Unkraut überwuchert ist, ist ein kleiner Gemüsegarten zu sehen. Dem Minarett fehlt die Spitze. Die haben die Muslime beim erzwungenen Übersiedeln in die Türkei mitgenommen, heißt es im Dorf.
Am östlichen Ende des Dorfs überquere ich auf einem Betonsteg das trockene Flussbett. Ich biege rechts ab und folge einem anfangs noch betonierten Weg. Kurz danach liegt links der große moderne Fußballplatz.
Am Flussbett entlang führt der Weg stetig bergan. Große grüne Büsche und Bäume säumen Flussbett und Weg und überall blühen Blumen. Kamille, sattroter Mohn, Kornblumen, mannshohe Malven und viele andere.
Die Felder und Weiden liegen hoch über dem Flussbett, gestützt von intakten Trockenmauern aus großen, grauen Feldsteinen. Die Terrassen mit ihren Mauern reichen weit die Berge hinauf. Auf einigen stehen Olivenbäume, andere sind mit Weinreben bepflanzt, auch viele Steineichen sehe ich. Etliche Terrassen dienen als Weiden für Schafe. Ein paar Mal sehe ich ein Pferd auf einer Weide grasen. Am Ende des Wegs, da wo er in ein Hochplateau mündet, werde ich von einem angeketteten Hund wild angebellt. Er hat weißes, zotteliges Fell und ist ziemlich groß. Unter einem Baum hinter ihm sehe ich eine offene, liegende Tonne, daneben ein Blechnapf mit Wasser. Offensichtlich bewacht er die Schafherde weiter den Hang hinauf. Er tut mir leid, aber ich wage nicht, ihm näher zu kommen. Sein Knurren und rasendes Gebell halten mich davon ab. Ich kehre um.
Sterbe- und Bestattungskultur in Filia
Elisabeth Sauer
Schon viele Jahre habe ich mich in Deutschland im Rahmen meiner Arbeit in der Trauerbegleitung mit Sterbe- und Bestattungskultur beschäftig, unter anderem auch mit der Arbeit des griechischen Psychologen und Trauerforschers Dr. Jorgos Cakancakis, der sich intensiv mit alten Klageritualen (klamata, und myrologia) auf der Peleponnes/Mani beschäftigt hat. Von daher war mein Forschungsthema schnell gefunden: Ich wollte unseren Forschungsaufenthalt nutzen, die griechischen Sterbe- und Bestattungsrituale in Filia, soweit möglich, kennenzulernen. Darüber hinaus ist mir Griechenland sehr vertraut. Es ist das Land, das ich seit 45 Jahren am liebsten und häufigsten besuche. Nun wollte ich aus der Perspektive meiner Erfahrungen in Deutschland in Filia nach kulturellen und religiösen Unterschieden und Gemeinsamkeiten in der Sterbe- und Bestattungskultur schauen, und dabei Spuren der osmanischen Zeit in Filia verfolgen (wenn denn welche zu finden sein würden). Im Dorf suchte ich also nach Informationen vor Ort und befragte BewohnerInnen und Bewohner.
Auf der Überlandstraße von Mytilini kommend, sieht man rechter Hand den orthodoxen Friedhof von Filia, der etwas oberhalb vom Dorf am Hang liegt. Eine alte Steinmauer begrenzt das Friedhofsgelände und man betritt es durch ein Eisentor. Geradeaus trifft man auf die Kapelle.
Diese dient der Aussegnung der Toten, nachdem sie von der Kirche an der Plateia im Dorf hochgebracht wurden. Eine Inschrift neben dem Eingang weist ein Datum von 1874 aus. Ob es sich hierbei auch um das Entstehungsdatum des Friedhofs handelt, ließ sich im Gespräch mit DorfbewohnerInnen nicht eindeutig klären.
Während einige meinten, ein vorhergehender Friedhof sei früher bei der Kirche gewesen, sagte der Pope, er hätte schon immer an diesem Ort außerhalb des Dorfes gelegen und sei sehr alt. Allerdings wäre er 1980 erweitert worden.
Auffallend ist, dass Tod und Sterben in Filia auch heute noch viel stärker Teil des Lebens sind als im modernen städtischen Deutschland. Wenn ein Mensch im Dorf gestorben ist, bleibt der/die Tote eine Nacht zu Hause aufgebahrt. Die Angehörigen waschen den Leichnam, kleiden ihn an und bedecken den Körper mit einem Leichentuch (ein sehr altes handgewebtes Leichentuch aus Seide mit geklöppelten Bordüren ist im kleinen Heimatmuseum im Dorf ausgestellt). Viele Menschen kommen, verabschieden sich und legen mitgebrachte Blumensträußchen auf den Leichnam. Bis zur Beerdigung bleibt er bewacht und aufgebahrt, damit sich Verwandte und Freunde noch von Angesicht zu Angesicht verabschieden können. Auch Kinder dürfen dabei sein.
Das erinnert mich an den Umgang mit Toten in meiner Kindheit auf dem Dorf Ende der 50er- Jahre. Als meine Großmutter, die bei uns im Haus lebte, gestorben war, wurde sie drei Tage in ihrem Bett zu Hause aufgebahrt. Alle Verwandten, Nachbarn, Freunde konnten sich von ihr verabschieden. Ich als Kind war auch dabei, ahmte das Ritual der Erwachsenen nach, den Leichnam drei Mal mit Weihwasser zu bekreuzen. Der Tod gehörte zum Leben und ganz selbstverständlich nahmen wir Kinder an allen Ritualen rund um Tod und Beerdigung teil. Wenn möglich, fand die Beerdigung nach drei Tagen statt und der Leichnam wurde dazu in die Kirche getragen. Totenträger waren immer nahe Verwandte, enge Freunde, die dem/der Verstorbenen einen letzten Dienst erwiesen. Nach dem Gottesdienst mit Aussegnung wurde der Sarg auf dem direkt neben der Kirche liegenden Friedhof beerdigt und Kränze und Blumenschmuck auf dem Grabhügel abgelegt. In Filia werden ebenfalls Kränze mit auf Schleifen gedruckten letzten Wünschen der Angehörigen zum Friedhof getragen. Sie werden aber nicht aufs Grab gelegt, sondern – befestigt an langen Stöcken – im Vorhof der Kapelle nebeneinander an eine Mauer vor dem Gräberfeld gelehnt.
Je mehr Informationen ich in Filia bekomme über Abläufe und Zeremonien rund um Tod und Beerdigung, desto mehr kann ich Ähnlichkeiten zu meinen Kindheitserfahrungen in Deutschland ausmachen. Hier war das Thema „Tod und Sterben“ über viele Jahrzehnte tabuisiert, ins Private verdrängt und aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgegrenzt worden. Heute gibt es das Bemühen den Tod als Teil des Lebens wieder anzuerkennen und in das gesellschaftliche Bewusstsein zu bringen. Viele Rituale wie die Totenwäsche oder die Totenwache, die einst von der Familie oder Angehörigen übernommen wurden, aber werden nach wie vor an professionelle Bestattungsunternehmen abgetreten, die oft sehr schnell nach Todeseintritt den Leichnam abholen und alle weiteren Aufgaben übernehmen. Abschiednehmen findet oft in den Räumen des Bestattungsunternehmens statt und nicht mehr im privaten Umfeld der Toten.
Während unseres Aufenthalts in Filia konnte ich eine Beerdigung miterleben. Mir schien das halbe Dorf war in der Kirche schon versammelt als der Sarg hereingebracht wurde und der Gottesdienst begann. Am Ende der Liturgie, bevor der Sarg aus der Kirche getragen wird, umrunden Trauernde und Gottesdienstbesucher den oder die in der Mitte des Kirchenschiffs aufgebahrte Tote und küssen die Ikone des Namenspatrons, die am Rand des Sargs liegt. Auch sie legen Blumen auf den toten Körper, sodass er über und über mit Blumen bedeckt ist, wenn der Sarg durch das Spalier aus Angehörigen und trauernden Dorfbewohnern aus der Kirche getragen wird. Als der Trauerzug die Plateia überquert, erheben sich alle, die an den Tischen auf dem Platz oder in den Kafeneia sitzen als Zeichen der Ehrerbietung. An der Spitze des Trauerzugs bringt ein Auto den Sarg zum Friedhof. In der kleinen Kapelle wird er noch einmal offen aufgebahrt, der Pope vollzieht die Aussegnung, die meisten Dorfbewohner und Trauernde stehen währenddessen draußen vor der Kapelle. Anschließend wird der Leichnam zum offenen Grab getragen, wo der Sarg in Richtung Osten (Auferstehung) abgelegt wird.
Das Grab, das für den Leichnam vorbereitet ist, besteht – wie alle anderen Gräber auch – aus einer Betonverschalung, in die der noch offene Sarg mit Seilen hinabgelassen wird. Der Pope spricht Segenswünsche, danach wird das Gesicht der/des Toten mit einem Tuch bedeckt und Blumen und Erde werden dem Grab beigegeben. Anschließend wird der Deckel über den Sarg gelegt und das Grab mit Betonplatten verschlossen. Hier wird der/die Tote die nächsten vier bis fünf Jahre ruhen, bis sich das Fleisch von den Knochen gelöst hat. In den kommenden Tagen wird das Grab mit einer Marmorumrandung eingefasst, die auch einen kleinen, mit einer Glasscheibe verschlossenen Aufbau am Kopfende des Grabs umfasst. Darin stehen ein Foto und vielleicht ein besonderer Gegenstand aus dem Leben der oder des Verstorbenen, ein Ewiges Licht und oft ein Sträußchen Plastikblumen. Name und Lebensdaten der/des Verstorbenen stehen auf einem großen, hölzernen Kreuz hinter dem Aufbau. Kleine weiße Steine bedecken das Grab, das zudem häufig mit Kreuzen oder Blumenschmuck geschmückt ist.
Die griechisch-orthodoxe Bestattungskultur erklärt, warum sich auf vielen Gräbern in Filia Todesdaten befinden, die nicht älter als fünf bis sechs Jahre sind. Denn nach etwa fünf Jahren wird das Grab geöffnet und die Gebeine werden exhumiert. Dies ist eine Arbeit, die mittlerweile von einem professionellen Totengräber ausgeführt wird, der seine Dienste auf der ganzen Insel anbietet. Die gereinigten Knochen werden in eine Beinkiste gelegt, die dann im osteofylakion, im Gebeinhaus des Friedhofs, einem schnörkellosen kleinen Gebäude, aufbewahrt werden. Darin stehen Regale an allen vier Wänden, in denen sich die Beinkisten aus Holz oder Metall bis zur Decke stapeln. In der Mitte steht das obligatorische, mit Sand gefüllte Becken, in das in allen griechischen Kirchen die langen, dünnen Kerzen gesteckt werden.
Aber nicht alle Dorfbewohner bewahren die Knochen ihrer Toten im Beinhaus auf. Manche Toten finden ihre letzte Ruhestätte auch in einem Sarkophag, einem aus Stein gehauenen Aufbau, mal schlicht, mal mit kunstvollen Verzierungen, die von einem Steinmetz gemeißelt wurden. Auch sie sind geschmückt mit christlichen Symbolen, Fotos und Plastikblumen. Diese Sarkophage befinden sich in einem abgetrennten Teil des Friedhofs und sind Eigentum der wohlhabenderen Einwohner Filias. Die Sterbedaten reichen hier viel weiter in die Vergangenheit zurück.
Neben dem orthodoxen Friedhof interessierte mich auch der muslimische Friedhof. Der Bevölkerungsaustausch in den 1920er-Jahren führte dazu, dass alle Muslime den Ort verlassen mussten. So sind Zeichen muslimischen Lebens heute verfallen oder verschwunden. Ich möchte gerne wissen, was aus dem muslimischen Friedhof nach dem Exodus der muslimischen Bewohner geworden ist. Es bedurfte vieler Nachfragen, wo sich dieser Friedhof befunden haben könnte. Lag er nahe der Moschee mitten im Ort?
Nachdem die letzten Muslime 1923 Filia beim Bevölkerungsaustausch verlassen hatten, bekam die Moschee einen griechischen Besitzer, der eine Käserei darin betrieb. Heute ist das Gebäude zwar noch intakt, aber völlig verwahrlost und der Moscheehof ist überwuchert von Grün. Ein kleiner Teil wird von Nachkommen des ehemaligen Besitzers noch als Gemüsegarten genutzt. Meine Idee, hier könnte der Friedhof gewesen sein, erweist sich als falsch. Ein Bewohner Filias erinnert sich, dass sich der muslimische Friedhof im unteren Teil des Ortes auf der anderen Seite des Flusses befunden hat. Noch viele Jahre hätten dort große alte Zypressen gestanden, wie sie für einen muslimischen Friedhof typisch gewesen wären. Heute ist davon nichts mehr zu erkennen. Die Frage, was aus den muslimischen Toten nach der zwangsweisen Übersiedlung geworden ist, konnte mir niemand beantwortet. Auch über die muslimischen Bestattungsrituale konnte ich nichts in Erfahrung bringen und so befragte ich nach meiner Rückkehr eine Freundin, die aus der Türkei kommt, danach.
Wie im Christentum heute liegen auch im Islam die Friedhöfe meist etwas abseits der Dörfer. Die traditionell festgelegten Sterberituale sind sehr detailliert. In beiden Religionen wird der Leichnam nach Eintritt des Todes gewaschen, im Islam in einer exakt vorgegebenen Reihenfolge. Dabei werden im Islam dem Sterbenden und Toten ohne Unterbrechung Gebete ins Ohr geraunt. Anschließend wird der Leichnam in Leinentücher gehüllt und auf einer Bahre, eventuell noch mit einem Teppich bedeckt, zum Friedhof getragen oder – heute – im Leichenwagen eines Bestatters gefahren. Muslimische Beerdigungen müssen innerhalb eines Tages stattfinden, in Filia innerhalb von zwei Tagen. Im Gegensatz zu den reichlich ausgestatteten Gräbern im Christentum gibt es im Islam keinen aufwändigen Totenkult. Die Friedhöfe sind sehr schmucklos, manchmal stehen kleine Stelen mit den Namen der Toten auf den Gräbern. Die Toten werden ohne Sarg nur in einem Leinentuch beerdigt, in Gebetshaltung Richtung Mekka. Je nach islamischer Ausrichtung gibt es einen Grabhügel oder das Grab ist dem Boden gleich. Im Gegensatz zu christlichen Friedhöfen haben die Toten im Islam ein ewiges Ruherecht.
Insgesamt konnte ich keine Spuren der einstigen muslimischen Bestattungskultur in Filia mehr finden. Vielleicht erklärt auch die im Gegensatz zur christlichen Friedhofskultur geringe Bedeutung, die Friedhöfe im Islam haben, dass von dem muslimischen Friedhof in Filia heute nichts mehr zu erkennen ist. Gerne hätte ich auch erfahren, wieviel die Dorfbewohner von den jeweils anderen religiösen Ritualen mitbekommen haben, ob es gegenseitige Teilnahme (oder Anteilnahme) an den Zeremonien oder Abläufen gab, aber leider ist die Generation, die mir davon hätte erzählen können, ausgestorben.
Interview mit Meni
Geführt von Brigitte Markgraf, Elisabeth Sauer und Frank Schabel. Zusammengefasst von Elisabeth Sauer
Meni ist 82 Jahre alt, verwitwet und betreibt ein großes Kafeneion an der Agora in Filia. Sie wird Anfang der 40er-Jahre in Filia geboren, das damals noch etwa tausend Einwohner hatte. Hier verbringt sie ihre Kindheit und besucht fünf Jahre lang die Grundschule. Mit zwölf beendet sie die Schule und hilft anschließend ihrem Vater in der Landwirtschaft und ihrer Mutter im Haus.
Ihre Großeltern hatten in Kleinasien eine Viehwirtschaft mit Kühen, Schafen und Olivenhainen. Bei dem großen Bevölkerungsaustausch 1923 konnten sie mit acht anderen Familien nach Lesbos fliehen und ließen sich in Filia nieder. Dort wurde ihnen ein kleines Haus zugewiesen, das eine türkische Familie, die aus Griechenland fliehen musste, verlassen hatte. Sie begannen dort eine kleine Landwirtschaft aufzubauen. Vor der großen „Kleinasiatischen Katastrophe“ lebten viele Türken in Filia. Das Zusammenleben war gut und unkompliziert. Es bestand eine gute Nachbarschaft. Das Kafeneion, das heute Meni gehört, gab es schon zu ihrer Kindheit an diesem Platz. Damals verkehrten dort nur Männer. Sie bekamen dort Kaffee und Schnaps serviert. Als Essen gab es nur kleine Mezze zu den Getränken. Rund um die Plateia gab es noch zwei weitere Kafeneia.
1960 geht ihr späterer Mann, mit dem sie damals noch nicht verheiratet ist, nach Deutschland und arbeitet in einer Metallfabrik. Sie folgt ihm 1961. Durch das Gastarbeiter -Anwerbeverfahren erhält sie einen Vertrag bei Triumph in Aalen, Baden-Württemberg. Sie heiraten und können innerhalb der nächsten Jahre ihre Geschwister und ihre Eltern nachholen, die auch bei Triumph arbeiten. Obwohl die deutsche Sprache schwer für sie ist, ist es für sie eine sehr gute Zeit in Deutschland. Ihr gefällt die Arbeit bei Triumph, sie hat gute Arbeitsbedingungen, verdient viel, bekommt sogar eine Wohnung gestellt. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes kann sie zu Hause in Heimarbeit für Triumph arbeiten.
Meni bekommt in Deutschland zwei Kinder, später zurück auf Lesbos noch einen Sohn. Die Schulbildung der Kinder ist ihr sehr wichtig. 1975 geht deshalb die ganze Familie nach der Grundschulzeit des ältesten Sohnes zurück nach Lesbos. Denn es gibt es in Aalen keine griechische Schule und keine orthodoxe Kirche. Die nächste Schule ist zwanzig Kilometer entfernt in Stuttgart. Besonders für Meni ein schwerer Schritt: “Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen in Deutschland zu bleiben.“ Vater und Bruder bleiben in Athen. Der Bruder, ausgebildeter Mechaniker, kann in eine Niederlassung von Triumph in Athen wechseln, macht sich später selbstständig und lebt noch heute in Athen.
Für Meni ist die Rückkehr ins Dorf nicht schwierig, sie kennt sich im Dorf noch aus. Für ihre Kinder ist es schwieriger sich ans Dorf zu gewöhnen. Sie kaufen das Kafeneion auf der Plateia, bauen es um und vergrößern es. Und Meni bietet nach der Wiedereröffnung auch Speisen an. Sie macht sich einen Ruf als gute Köchin, nach und nach kommen viele Gäste und es wird üblich, einmal in der Woche, sonntags, mit der ganzen Familie bei Meni essen zu gehen. Damals hat sie gut verdient und konnte sparen, heute ist alles teurer geworden und in der Finanzkrise haben die Familien nicht mehr so viel Geld, um essen zu gehen. In den ersten Jahren hilft die ganze Familie mit, auch wenn ihr Mann nicht gerne im Kafeneion arbeitet. Er ist lieber im Garten und der Landwirtschaft. Dort baut er so viel Gemüse an, wie Meni es im Kafeneion für das Angebot ihrer Speisen braucht.
Ihr ältester Sohn ist 1998 mit 36 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Das war das Allerschlimmste, was ihr in ihrem Leben passiert ist. Er war bei der Armee zum Fluglotsen ausgebildet worden und arbeitete am Flughafen in Mytilini. Er hatte Frau und ein Kind.
„Vorher war alles gut, danach nichts mehr!“
Das Kafeneion macht sie heute alleine, ihr Mann ist tot, die Kinder wollen es nicht übernehmen. Was nach ihrem Tod damit passiert, weiß sie nicht. Die Arbeit ist für sie sehr wichtig, sonst wird sie verrückt, sagt sie. Auf die Frage, woher sie die Kraft nimmt, all die vielen Anforderungen zu bewältigen, sagt sie, sie bitte jeden Morgen Gott um Geduld und Stärke! Allerdings seien das Leben und die Nachbarschaft nicht mehr so eng und gut wie früher. Als ihr Sohn gestorben war, hat das ganze Dorf sie unterstützt und begleitet in ihrem Schmerz.
„Heute haben die Leute nach drei Tagen alles vergessen.“
Auf die Frage, was sich im Dorf verändert hat, beschreibt sie die Nachbarschaft:
“Früher haben alle einander geholfen, heute ist es fast wie in Athen!“
Das Kafeneion ist aber immer noch ein wichtiger Mittelpunkt im Dorf. Dort laufen alle Infos zusammen, sie bekommt viel erzählt. Das wichtigste aber ist zuzuhören. Meni hört alles und tröstet! Die Arbeit ist schwer, aber noch kann sie sich nicht vorstellen, das Kafeneion aufzugeben.
In Filia leben heute noch gut fünfhundert Menschen, denn viele sind nach Australien, Amerika oder Deutschland ausgewandert. Allerdings kommen im Sommer viele Familien aus dem Ausland, wo sie arbeiten, nach Filia zurück. Leider gehen besonders die jungen Frauen zum Studium weg. Viele junge Männer, die Landwirte sind, leben unverheiratet im Dorf.
Für die Zukunft wünscht sie sich, dass in Filia alles so bleibt, wie es ist. Sie liebt ihr Dorf, aber es sind immer weniger Leute da. Die zwei Bäckereien sollen bleiben, mehr junge Leute sollen im Dorf bleiben. Heute leben etliche albanische Familien in Filia, das findet sie gut, denn es sind fleißige und hilfsbereite Menschen, ihre Kinder gehen in die kleine Dorfschule, was auch wichtig ist, damit die erhalten bleibt.
Interview mit Georgos und Meropi
geführt von Brigitte Markgraf, Elisabeth Sauer und Frank Schabel. Zusammengefasst von Brigitte Markgraf
Georgos und Meropi leben im Winter in Athen. Ihr Haus in Filia bewohnen sie nur im Sommerhalbjahr. Beide verfügen über einen reichen Schatz an Wissen über Filia und seine Geschichte.
Georgos wird 1947 in Filia geboren. Seine Familie war arm. Früh schon arbeitet er mit seinen Eltern auf dem Feld in den Bergen. Als er zwölf Jahre alt ist, bekommt seine Familie von einem Onkel das Angebot, eines der fünf Kinder zu ihm nach Athen zu schicken, um dort im Betrieb des Onkels zu arbeiten. Georgos ist das jüngste Kind der Familie und die Familie entscheidet, dass er nach Athen gehen solle. So zieht er 1959, im Alter von zwölf Jahren, zur Familie seines Onkels. Eine Zeit lang arbeitet er für seinen Onkel, später verrichtet er hier und dort Gelegenheitsarbeiten, bis er schließlich eine feste Anstellung in einem Hotel findet. Die Arbeit ist hart. Er muss viele Stunden am Tag verfügbar sein und verdient sehr wenig. 1965, mit achtzehn Jahren, bewirbt er sich im Rahmen des Anwerbeabkommen zwischen der BRD und Griechenland in einem Athener Büro des deutschen Arbeitsamtes um einen Arbeitsvertrag. Nach einem umfänglichen Aufnahmeverfahren bekommt er einen Vertrag in einer Textilfabrik in Hof/Saale und arbeitet dort in der Textildruckerei. Er wollte nach Hof, weil dort bereits Verwandte von ihm leben und arbeiten. Ihm folgt später auch noch einer seiner Cousins nach. Er lebt in einem Wohnheim, eine Holzbaracke mit Mehrbettzimmern, einer Gemeinschaftsküche und gemeinsamen Sanitätsräumen.
Zu der Zeit ist er schon mit Meropi verlobt, die ebenfalls in Filia geboren und aufgewachsen ist. Sie ist siebzehn Jahre alt, als sie Georgos in Filia heiratet. Zehn Tage nach der Hochzeit folgt sie ihrem frischgebackenen Ehemann nach Deutschland. Sie bewirbt sich um einen Arbeitsvertrag im gleichen Betrieb wie Georgos und arbeitet dort bei der Verarbeitung der rohen Wolle und in der Färberei. Zusammen ziehen sie in eine Werkswohnung auf dem Werksgelände, für achtzig Euro Miete im Monat. In Deutschland kommt auch ihr Sohn zur Welt.
Als „Gastarbeiter“ nach Deutschland zu gehen bedeutet vor allem eine Verbesserung ihrer finanziellen Lage. Für damalige griechische Verhältnisse verdienen sie in der Fabrik „gutes Geld“. Während Georgos in dem Athener Hotel fünfhundert Drachmen im Monat bekam, was ungefähr einhundert D-Mark entsprach, liegt sein Anfangsgehalt in Deutschland bei fünfhundert D-Mark im Monat. Aber sie sind auch nach Deutschland gegangen, weil sie für sich weder in Athen noch in ihrem Dorf eine Zukunft und Perspektive sehen.
1986 entscheiden sich Georgos und Meropi zur Rückkehr nach Griechenland. Meropi wäre gerne noch länger in Deutschland geblieben. Aber Georgos zieht es aus mehreren Gründen zurück nach Griechenland. Zum einen beginnt zu dieser Zeit die große Strukturkrise der deutschen Textilindustrie, in der viele Betriebe abwandern und viele Arbeitsplätze verloren gehen. Zum anderen fühlt sich Georgos in Hof auch immer wieder Diskriminierungen ausgesetzt. In positiver Erinnerung sind Georgos allerdings sein Meister und sein Chef, die ihn und die anderen „Gastarbeiter“ immer fair behandelt und unterstützt haben.
Sie kehren allerdings nicht nach Filia zurück. Von ihrem ersparten Geld kaufen sie zusammen mit Georgos Bruder in Athen ein Mehrfamilienhaus, in das sie einziehen und in dessen Erdgeschoss sie eine Taverne eröffnen, die sie bis zu ihrem Ruhestand führen. Ihr Sohn bleibt in Deutschland, wo er noch heute lebt, zusammen mit seiner deutschen Ehefrau. Sie haben einen Sohn. Mit der Arbeit in der Taverne in Athen konnten Georgos und Meropi genug Geld erwirtschaften, um sich ein altes Haus in Filia zu kaufen, das sie nach und nach renovierten und ausbauten, sodass sie nun das Sommerhalbjahr im Dorf verbringen können. Ihr Sohn hat sich die Räume der ehemaligen Taverne in Athen zur Wohnung umgebaut. Wann immer er kann, verbringt er nun einige Zeit im Winter bei seinen Eltern in Athen.
Die Familiengeschichte und das Dorf
Meropis Familie lebt schon seit vielen Generationen in Filia. Die Felder ihrer Familie liegen zwei Stunden Eselsritt vom Dorf entfernt. Ihre prika (Aussteuer) als vorgezogenes Erbe besteht aus drei Feldern, einem Grundstück und dem Gebäude der Schmiedewerkstatt ihres Vaters. Ihre Schwester hat das Haus der Eltern bekommen. Meropi betont, dass die Eltern die Verteilung des Erbes mit ihren Töchtern besprochen haben. Denn damals, wie auch heute noch, ist es Erbbrauch, den Töchtern zur Hochzeit ein Haus zu übergeben, in das der Mann zu seiner Frau zieht und in dem die zukünftige Familie leben wird. Aber da Meropi und ihr Mann in Deutschland lebten und gut Geld verdienten, waren sie auf ein Haus in Filia nicht angewiesen.
Georgos Familie dagegen stammt von der kleinasiatischen Küste, aus der Nähe der Stadt Ayvalik. Sein Großvater hatte im Dorf Ceytindag einen Laden und eine Bäckerei. Im Nebenerwerb bewirtschaftete er auch noch Felder und hielt Schafe und Ziegen. Die Familie war dort fest verwurzelt und beheimatet. Der Großvater hatte viele türkische Freunde. Als die Insel Lesbos, die 1912 noch zum Osmanischen Reich gehörte, von griechischen Truppen erobert und in den griechischen Nationalstaat eingegliedert wurde, verließ die Familie zum ersten Mal ihre Heimat und ging nach Filia auf Lesbos. Sie kehrten aber zurück nach Ceytindag, weil ihnen ihre wirtschaftliche Lage dort doch besser erschien als in dem Bergdorf auf Lesbos. Aber 1922 im Zuge des erzwungenen Bevölkerungsaustauschs zwischen der Türkei und Griechenland mussten sie fliehen ohne etwas mitnehmen zu können und gingen endgültig nach Filia. Dort bekamen die Großeltern ein Haus zugewiesen, in dem zuvor eine türkische Familie, die des Hodscha von Filia, gewohnt hatte, der wiederum mit seiner Familie in die Türkei vertrieben wurde. Ob sie dafür etwas bezahlen mussten oder es umsonst zugewiesen bekamen, weiß Georgos nicht. Anfänglich hatten die Großeltern nur ein kleines Stück Land, später konnten sie noch mehr dazu kaufen. Die fünfzig Schafe, die die Familie besaß, waren „zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben.“ Sie lebten von Zwiebeln, Käse und Weizen, alles Produkte, die sie selbst anbauten und produzierten. Später hat die Familie auch Tabak und Getreide angepflanzt und Futter für die Schafe. Georgos Großvater, der in Ceytindag seine eigene Bäckerei hatte, fand in Filia Arbeit bei einem der Bäcker. Von dem Geld, das er ersparen konnte, hatte er sich Aktien gekauft, die in der Inflation aber wertlos wurden.
Heute besitzen Georgos und Meropi noch 150 Olivenbäume. Das sind zu viele, um die Olivenernte allein zu bewältigen. Aber wenn sie Albaner für die Ernte anstellen, lohnt sich die Ernte nicht mehr, weil der Verkauf des Öls zu wenig Geld einbringt. Jetzt haben sie die Bäume radikal zurückgeschnitten und hoffen, wenn in zehn Jahren die Bäume nachgewachsen sind und wieder Früchte tragen, dass dann auch der Preis für Olivenöl wieder gestiegen ist.
Georgos und Meropi sind zwei Mal in die Türkei gereist, um sich die alte Heimat von Georgos Familie anzuschauen. Beim zweiten Besuch haben sie das Haus der Großeltern auch tatsächlich gefunden. In Georgos Familie wurde erzählt, dass die Großmutter vor ihrer endgültigen Flucht nach Lesbos in ihrem Garten eine Truhe mit Geld versteckt haben soll. Bei ihrem Besuch erzählten Nachbarn, dass der neue Besitzer der Bäckerei und des Hauses die Truhe mit dem Geld gefunden hätte und sich damit in Izmir ein Haus gebaut haben soll.
Feldforschung in Filia auf Lesbos
Ulrike Sindermann
Wenn man sein Herz in der Türkei verloren und in Griechenland wiedergefunden hat, ist es schwer die Gegensätzlichkeit der Geschichtsmythen in den beiden Ländern zu akzeptieren. Schon in den frühen 1980er-Jahren war ich in Begleitung meines türkischen Freundes mit dem Motorrad unterwegs entlang der türkischen Westküste, habe einen sehnsüchtigen Blick nach Lesbos geworfen auf die gegenüberliegende, die griechische Seite, als ich in Ayvalik, elf Seemeilen entfernt von Lesbos, auf dem türkischen Festland, angelangt war. Mein Nebenfach Turkologie hat mich dem Verständnis und den Ursachen der Konflikte zwischen der heutigen Türkei und Griechenland, nicht wirklich nähergebracht. Ich hatte damals keine Ahnung von der Kleinasiatischen Katastrophe!
Vergessene Gemeinsamkeiten
Kommt kantaifi (Engelshaar) nun aus dem Orient oder aus Griechenland? Überhaupt, die hohe Kunst der Zuckerbäckerei, haben das die Griechen den osmanischen Eroberern gelehrt? Griechischer Joghurt kommt ursprünglich aus der Türkei, oder? Auch die Frage: „Woher kommt tavla?“, ein Spiel (Backgammon) nicht wegzudenken aus den türkischen Teehäusern (caybahcesi). Oder heißt es tavli, was ja auch in jeder griechischen Taverne seinen Platz hat. Der Streit lässt sich nicht klären, denn er führt uns tief ins Grab von Tutanchamun, 1300 Jahre vor Christi. Dort hat man die ersten Spielbretter entdeckt. Beide Völker, die Griechen und die Türken, beanspruchen dieses wunderbare Spiel für sich. Eine Kontroverse will ich deswegen nicht riskieren, weder im caybahcesi auf türkischer Seite, noch im Kafeneion bei den Griechen. Es gibt sowieso keinen Sieger oder Verlierer in dieser Debatte. Wer beide Länder so liebt wie ich es tue, will an diesen “nationalen” Auseinandersetzungen etwas ändern. Eine so lange Geschichte miteinander kultiviert Gemeinsamkeiten, denn diese kulinarischen Köstlichkeiten vergehen auf beider Zungen gleich. Und die Brettspiele lassen bisweilen die schwere Geschichte vergessen, egal in welchem Land.
Vor unserer Ankunft auf Lesbos
Diese Debatte, woher was kommt, was ist türkisch oder besser osmanisch-türkisch, was ist griechisch oder griechisch-anatolisch, hat mich auf die Spur gebracht. Die subjektive Perspektive auf das Historische – sei es aus dem kulinarischen Winkel betrachtet oder auch vom kulturellen politischen Standpunkt aus – wird in der Schule vermittelt. Die Geschichtsschreibung formt das nationale Bewusstsein und lenkt es in die gewünschten Bahnen. Davon mehr am Schluss.
Wir waren vor unserer Ankunft in Filia auf Themensuche. Ulrike Krasberg hatte uns schon gut eingestimmt auf das Leben in Filia: Einige Besuche im Kafeneion bei Meni und gelassen auf der Plateia rumsitzen, würde uns schon zu unserem Thema führen. So lautete die Devise.
Fragen ergeben sich aus unseren Beobachtungen und diese wiederum führen zu unseren Themen in die Vergangenheit, in das Osmanische Reich, das von 1462-1922 auf Lesbos bestanden hat. Und genauso ist es passiert.
Ankunft in Filia / Themensuche
Angekommen sind wir am 14. Mai. Die Fahrt im Taxi hatte mir schon die ersten Hinweise auf mein Thema gegeben, das ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kannte. An dem Innenspiegel seines Taxis schaukelten bei jedem Schlagloch in der Straße zwei Glücksbringer, das orthodoxe Kreuz als Symbol des Christentums und ach, – da schlug mein Herz doch gleich höher – das Auge Allahs, das berühmte Amulett, das in der Türkei als Schutz gegen den bösen Blick, überall zu sehen ist. Auch in Griechenland soll es schützen. Schon bin ich wieder am Anfang meiner Geschichte, wo liegt der Ursprung, im Osmanischen Reich, in Griechenland oder in beiden Ländern?
Wann war der Erstkontakt zwischen Byzantinern und nomadischen Turkvölkern? Diese Frage drängt sich mir auf und nachgelesen habe ich dann, dass es zur Zeit des Hunnenkönigs Attila um 473 passierte. Es gab also schon ein sehr frühes Aufeinandertreffen dieser beiden Völker.
Vor Ort/Themenfindung
Unsere Themen, über die wir schreiben werden, haben wir also vor Ort gefunden und entwickelt. Anhand von Gesprächen mit Einwohnern von Filia, über ihre Familiengeschichten, deren Vergangenheit zum Teil auf dem türkischen Festland lag und anhand der Spuren, die noch im Dorf sichtbar waren. Auch die Umgebung des Dorfs, die Neuverteilung von Land nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und der Vertreibung der muslimischen Familien im Dorf, der Friedhof in Filia und die durch Vererbungsregeln über die Generationen immer kleiner werdenden Anbauflächen, haben zu unseren Themen geführt. Menis Küche, ihre Rezepte und der „fehlende Kopf“ der Moschee am Rande von Filia, inspirierten mich zu recherchieren. So hatten wir dann alle unsere kleinen Forschungsvorhaben vor Ort gefunden. Wobei wir uns fast täglich zu Diskussionsrunden zusammensetzten, um neueste Erkenntnisse Einzelner gemeinsam zu diskutieren.
Mündliche Quellen
Unsere „Quellen“ waren auch die Schulleiterin Georgia Kokkinogeni des „Kalfagiannea-Gymnasio“ (Realschule), der junge Englischlehrer Nikolas Kalogiros, der Pope, die Schüler und Besucher in Filia waren bereit ihr Wissen mit uns zu teilen. Nicht zu vergessen natürlich auch Meni, die Kafeneionbesitzerin, die zur ersten Generation der Einwanderer in Deutschland zählte.
Meni, diese kleine, aufmerksame und stets hilfsbereite Frau, schon in ihren Achtzigern, kredenzte uns jeden Morgen den griechischen Mocca. So viele köstliche Tassen, die sich immer wieder, fast wie von selbst, auffüllten. Und jede einzelne Tasse Mocca hat sie auf der offenen Gasflamme zubereitet und uns an den Tisch gebracht. Also mindestens zwölf Tassen zum Frühstück ohne die übrigen Gäste aus dem Kafeneion, die habe ich nicht mitgezählt. „Efcharisto“, Meni! Übersetzt haben Ulrike, manchmal Meni, wenn die Gespräche im Kafeneion stattfanden.
Orientalischer Till Eulenspiegel
Kleine Geschichte von Nasreddin Hoca, (ein Querdenker der mit seinen „türkischen Alltagsgeschichten“ nicht wegzudenken ist):
„Das Minarett von Nasreddin Hoca`dan“
Der Hodscha begibt sich mit seinem Landsmann aus Sivrihisar nach Konya. Als sie in die Stadt kommen und die hohen Minarette erblicken, sagt sein Landsmann:
“Mensch Hodscha, ich muss dich was fragen, du weißt es bestimmt. Mir war es schon immer ein Rätsel wie man so schlanke, hohe Minarette baut“.
Der Hodscha lächelt: “Ganz einfach. Man stellt einen Brunnen auf den Kopf, daraus wird ein Minarett.“
„Und wie macht man das?“ fragt der andere.
„Ich bin ein Geistlicher, in die Angelegenheit eines Architekten mische ich mich nicht ein.“
Wohin ist die Mondsichel der Moschee in Filia verschwunden?
Mein Thema auf Türkisch: Hilal nasil kayboldu?
Auf Griechisch: Pu ine to kefali to tsami? (Hat mir der Schüler Michael übersetzt)
Meine Fragen:
Weiß jemand, wo die Spitze gelandet ist?
Was ist passierte mit der Moschee, als die türkischen Familien Filia verlassen mussten?
Wer ist heute der Besitzer, wer hat den Schlüssel?
Die Moschee befindet sich am Rande von Filia, wo etliche Erntehelfer mit albanischer Nationalität leben. Sind unter den Albanern noch Moslems? Sind sie konvertiert?
Warum ist das Gelände verwildert und doch mit Stacheldraht zum Teil geschützt?
Das Nebengebäude war eine Koranschule, auch für Mädels?
Lässt der große Walnussbaum im Garten der camii auf einen moslemischen Friedhof schließen?
Wer hat noch Verwandte und Freunde in der Türkei?
So machte ich mich auf den Weg, den Rucksack voller Fragen, um Antworten im Dorf zu suchen.
Die ehemalige Moschee nach der Vertreibung
Sonntag. Wir sitzen im Kafeneion wie schon so oft und warten. Diesmal warten wir auf den heutigen Besitzer der Moschee. Nach der Vertreibung der griechischen Muslime aus Filia war das Moscheegebäude an die Gemeinde Filia gefallen, und jemand aus der Familie des heutigen Besitzers hatte es gekauft. Wir diskutieren über den großen Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei bei dem die Religionszugehörigkeit zugrunde gelegt wurde, griechisch-orthodox und der muslimische Glauben waren die Auswahlkriterien, nicht die Sprache. Dieses bis heute unverdaute, schreckliche Ende des Osmanischen Reiches, die Kleinasiatischen Katastrophe, hat tiefe Verletzungen bei beiden Völkern hinterlassen.
Der heutige Moscheebesitzer kam tatsächlich mit einem großen Schlüssel für ein ebenso großes Vorhängeschloss zum Eingang zur Moschee. „Sesam öffne Dich“ und das Tor sprang auf. Eine illustre Gesellschaft, der Pope, der Moscheebesitzer, unsere Ulrike Krasberg mit den fünf Teilnehmern der U3L, alle standen wir nun gemeinsam im hüfthohen Gras und bahnten uns unseren Weg zum Eingang der Moschee. Es hatte wohl lange niemand das Gebäude betreten. Ulrike hatte in der Vergangenheit immer mal wieder gefragt, ob sie die Moschee mal von innen sehen könnte, aber ein Termin dafür kam nie zustande. Da musste erst die U3L kommen. Jetzt hier im Hof schien mir die Moschee eher einer leerstehenden Fabrik und das Minarett einem stillgelegten Schornstein zu ähneln.
Der Pope berichtete (übersetzt), dass vor der Vertreibung, Griechen und Muslime aus Filia religiös gemischt um die Moschee herum lebten. Die gleiche Mischung existierte um die Kirche herum, nur auf der anderen Seite von Filia. Nach Aussagen des Popen hätten Christen und Muslime friedlich miteinander gelebt, gingen jeweils in die Kirche oder in die Moschee, je nach Glaubensrichtung.
Die historische Forschung berichtet, dass die Menschen im Osmanischen Reich häufig zum Islam konvertiert sind. Nicht unbedingt aus religiösen Gründen, eher um die eigene Lebenssituation zu verbessern, denn Muslime mussten weniger Steuern zahlen und rechtliche Angelegenheiten waren weniger kompliziert zu regeln. Außerdem gab es die Zwangsrekrutierung von christlichen Jungen bei den Janitscharen, die für das Eliteheer der Osmanen geraubt und zu Muslimen umerzogen wurden. Die Janitscharen waren „Söhne des Sultans“, seine Privatarmee. Aber das war auf Lesbos kein Thema. Das Zusammenleben der verschiedenen Religionen im Osmanischen Reich, das Verhältnis von Juden, Christen und Muslimen war eine meist friedliche religiöse Koexistenz. Und auch in Filia scheint eine Feindschaft zwischen den Glaubensrichtungen nicht zu entdecken. Aber mein Thema ist die Suche nach dem hilal, der nicht mehr vorhandenen Mondsichel auf dem nicht mehr vorhandenen Dach des Minaretts, also gehe ich nicht weiter darauf ein, welches gesellschaftliche System diese Koexistenz der Religionen unter den Osmanen ermöglichte.
Im Hof der Moschee gibt es noch ein Nebengebäude, dessen Tür und Fenster nicht mehr vorhanden sind. Es soll die Koranschule für Jungen gewesen sein. Die Mädchen wurden woanders im Dorf unterrichtet. Elisabeth fragt, ob im ungepflasterten Hof der Moschee der muslimische Friedhof gewesen sei? Nein, der wäre auf der anderen Seite des Flusses angelegt gewesen, mit vielen Zypressen. Was aus den Gräbern geworden wäre, nach dem Weggang der Muslime? Das wusste niemand. Aber die Zypressen hätten noch lange dort gestanden. Jetzt sind sie alle weg.
Der jetzige griechische Besitzer der Moschee nutzt einen Teil des unbefestigten Moscheehofs als Gemüsegarten. Er hat einen neuen Wasseranschluss legen lassen, zum Bewässern seiner Tomaten, Gurken und Zucchinis. In der Moschee hat der Vorbesitzer bis 1980 eine Käserei betrieben, eine verstaubte Waage mit Gewichten im Vorraum der Moschee dokumentiert noch den alten Gewerbebetrieb. Jetzt aber ist alles verwahrlost, zerbröselt, heruntergekommen. Es gab damals mehrere kleine Käsereien im Dorf. Als aber eine große Genossenschaftskäserei am Eingang des Dorfes gebaut wurde, verloren die kleinen Käsereien an wirtschaftlicher Bedeutung und wurden geschlossen.
Auf der Suche nach der Mondsichel, Aufstieg ins Minarett
Innen ist die Moschee in einem maroden Zustand. Der Zementputz über den Ziegeln an der Wand ist zum Teil abgebröckelt. Nichts lässt auf eine heilige Stätte schließen. Kein Bild, keine Malerei, kein Ornament, nur eine Amphore im Garten schmeichelt dem Auge. Mir wird erlaubt das Minarett zu besteigen.
Der Eingang zum Minarett liegt versteckt im hintersten Raum. Mein Herz klopft, denn man sieht nichts, kein Lichtschimmer gelangt in den Turm. Nur die Öffnung ganz oben lässt ein wenig Licht durch, das die letzten Treppenstufen erhellt. Unter meinen Füßen spüre ich Geröll, fast auf jeder Stufe. Gestein hat sich von den Wänden gelöst, auch die heftigen Erdbeben zwischenzeitlich haben wohl zu diesem Verfall beigetragen, nicht nur die fehlende Kuppel auf dem Minarett, was den Regen ungehindert reinströmen lässt. Von außen hatte ich gesehen, dass eine der großen Steinplatten, die die Brüstung der Galerie bildeten, auf der irgendwann einmal ein Muezzin gestanden hat, um die Muslime zum Gebet in Filia zu rufen, herausgebrochen war. Wenn ich schon nicht die Mondsichel gefunden habe, dann doch das fehlende Stück von der Brüstung. Es lag auf der Plattform.
Meine Frage an die Menschen in Filia, wohin die Mondsichel verschwunden sein könnte, wurde fast immer gleich beantwortet: haben die Türken mitgenommen. Und wohin sind die Türken geflüchtet? Nach Ayvalik (auf Griechisch Ayvali). Dazu komme ich später.
Geschichte der Minarette und dem hilal, der Mondsichel
Nicht jede Moschee hatte in früheren Zeiten ein Minarett. „Minarett“ kommt aus dem arabischen und bedeutet „Leuchtturm“. Die Vermutung liegt nahe, dass solche Leuchttürme gebaut wurden, um den Karawanen schon von weitem den Weg zum nächsten Gotteshaus zu zeigen. Das Minarett diente ebenso dem Gebetsruf, durch die Höhe war der Ruf gut hörbar in allen Richtungen. Aber nicht jedes Minarett hatte auch eine hilal (Mondsichel). Experten sehen in Minaretten nicht unbedingt Machtsymbole des Islams, sondern eher ein Zeichen der Repräsentanz. Der Stern kam erst später zur Mondsichel auf dem Minarett und noch später schmückten Halbmond und Stern die türkische Flagge. Die Stadt Konstantinopel übernahm das sichelförmige Mondsymbol als vorchristliches Symbol. Der verspätete Stern tauchte mit der Eroberung von Konstantinopel durch Mehmed II auf. Erst ab diesem Zeitpunkt wurden Mondsichel (hilal) und Stern als Symbol dem Islam zugeordnet und bis heute mit der muslimischen Welt in Verbindung gebracht. Die Mondsichel jedoch gab es seit Jahrhunderten auf Flaggen und Wappen, schon in Mesopotamien gab es Darstellungen von Mondsicheln. Es ist also keine Erfindung der Türken.
Der Verbleib der Mondsichel bleibt ein Geheimnis
Aber zurück zur Moschee in Filia. Auch wenn Menschen Symbole brauchen zur Orientierung und Halt besonders in Kriegszeiten und bei Vertreibung aus ihrer Heimat, so ist die Mondsichel nicht ein Symbol, das repräsentativ für die Identität und die Religionszugehörigkeit der Vertriebenen steht, und mitgenommen werden muss. Man kann vermuten, dass die Mondsichel in Filia abgeschraubt, das Material eingeschmolzen und wieder verkauft wurde. Ihr Verschwinden ist wohl weniger religiös, eher pragmatisch motiviert gewesen. Oder sie wurde von den flüchtenden Muslimen nach Ayvalik mitgenommen, um sie dann dort auf eine der zu Moscheen umgewandelten Kirchen zu setzen. Nachdem Aufstieg im Minarett weiß ich nun sicher, dass ich den Verbleib der hilal nicht mehr herausfinden werde. Nach Ayvalik sind die meisten Muslime geflohen, nachdem sie von Lesbos sowie Filia vertrieben wurden. Die meisten Antworten auf meine Fragen, die sich mir stellten, haben die Türken nach Ayvalik mitgenommen.
Fazit
Ich greife eine Idee des jungen Englischlehrers in Filia auf: Sowohl in Griechenland als auch in der Türkei findet keine Aufarbeitung der Geschichte der Trennung statt. Es fehlt ein gemeinsames Geschichtsverständnis der beiden Völker, die im Osmanischen Reich solange eng verbunden waren. Das Tabu, das in beiden Ländern über diesem Thema liegt, müsste einen Weg zur friedlichen Koexistenz finden. Vor allem müsste in den griechischen Schulen die Geschichte des Osmanischen Reichs als Teil „unserer“ Geschichte stärker Beachtung finden. Dazu müssten aber zunächst einmal neue Texte in die Schulbücher einfließen. So seine Idee!
Eine griechisch-türkische Annäherung in den Geschichtsbüchern aber stieß schon immer auf Widerstand, von der griechisch-orthodoxen Kirche, aber auch von der türkischen und griechischen Regierung. Ein gemeinsamer griechisch-türkischer Blick auf die Geschichte der Region „Ostägäis-Westtürkei“ würde die politisch aufgerufene Grenze zwischen „Europa“ und „Asien“, die diese Region in der Mitte durchschneidet, zumindest relativieren. Es könnte sich vieles verändern in den Köpfen der jungen Generation, wenn sich ein Schulplan über diese gemeinsame Geschichte, abgesprochen in beiden Ländern, erarbeiten ließe.
Filia heute und gestern – aus der Perspektive eines Fremden
Frank Schabel
Als auf unserer Fahrt vom Flughafen in Mytilini das Dorf Filia endlich auftauchte in dem weitläufigen, höher gelegenen Tal, das von Bergen umrandet und von der Straße aus kaum sichtbar ist, war ich überrascht, trotz aller vorbereitenden Seminarsitzungen. Positiv überrascht von der üppig-grünen Vegetation, die ich – mit der sommerlichen Kargheit Kretas vertraut – nicht erwartet hatte. Dass es so nicht überall auf Lesbos aussieht, habe ich erst später erfahren: Der Westen der Insel ist völlig karg, gleicht einer Mondlandschaft. Hier ist Lesbos vom Aderlass des Baumholzens für Schiffe aus den früheren Zeiten der Seefahrer gezeichnet. Ebenfalls überraschte mich Filia mit den massiven, aus Stein gebauten Häusern, die solide und alt wirken, robust und häufig stattlich. Das hatte so gar nichts zu tun mit den unzähligen Betonskeletten, die Griechenlands Landschaften und Inseln durchziehen.
Dann die schön gepflasterte Straße, die von der Landstraße aus direkt zur Plateia führt. Diesen Dorfplatz hatte ich mir ebenfalls anders vorgestellt: imposanter. Und mit großen Bäumen hatte ich auf der Plateia ebenfalls nicht gerechnet, sondern mit einem sonnigen Platz. Der erste Spaziergang durchs Dorf hin zu unseren Schlafplätzen war verwirrend, weil sich die kleinen Gassen für den Fremden auf den ersten Blick ähneln. Es dauerte, bis wir den Weg kannten und uns nicht mehr verliefen.
Die Natur, oder besser Kulturlandschaft rund um Filia ist ebenfalls beeindruckend. In den Olivenhainen werden kleinere Schafherden gehalten, die eng gedrängt im Schatten verharren. Bevor sie zu sehen sind, nehme ich zuerst ihren Geruch wahr, erst dann findet das Auge die Tiere. Beeindruckend die vielen Trockenmauern, die sich durch die Landschaft ziehen und mindestens aus dem 19. Jahrhundert stammen dürften. Vielleicht sind sie auch noch älter. Es steckt harte Arbeit dahinter, die steinige Landschaft so zu kultivieren, dass sie für Landwirtschaft und Tierhaltung nutzbar ist.
Von der kleinen Dorfschule waren wir alle angetan. In jedem Raum hing ein Beamer und es gibt einen eigenen Computer-Raum. Das wäre in Deutschland in Schulen vergleichbarer Größe nicht denkbar. Wir erfahren in teils radebrechend übersetzten Gesprächen, welch hohen Stellenwert Bildung in Griechenland hat. Abends in der Taverne greifen wir die Diskussion mit dem Englischlehrer über die Rolle des Osmanischen Reichs in Bezug auf das Verhältnis zwischen Griechenland und der Türkei wieder auf und fragen uns was wäre, wenn die Geschichte anders erzählt werden würde: Wenn das gängige Narrativ der „Fünfhundertjährigen Unterdrückung Griechenlands durch die Türken“ ersetzt würde durch eine Betrachtung Griechenlands als mitgestaltendem Teil im Osmanischen Reich? Gäbe es dann eine andere, eine entspanntere Beziehung zur Türkei? Wobei, jenseits der offiziellen Geschichtsschreibung und großen Politik scheint die griechische und türkische Bevölkerung – auch das haben wir in Gesprächen wahrgenommen – ein ganz anderes Verhältnis zueinander zu pflegen. So kommen Türken, deren Familien noch Anfang des 20. Jahrhunderts auf Lesbos gelebt haben, regelmäßig auf die Insel, um ihre alten Wurzeln zu spüren. Das gilt auch umgekehrt für viele Griechen, die sich nach Kleinasien auf die Spurensuche nach ihrer alten Heimat begeben. Das führt zu Begegnungen zwischen Griechen und Türkei, die sich jenseits der großen Politik gut verständigen.
Was mich auch verblüffte, ich, der ich in einer säkularisierten Welt lebe, in der Glaube kaum noch eine Bedeutung hat: die starke Rolle, die die Kirche in Filia noch spielt. Nicht abgehoben, wie häufig in katholisch geprägten Ländern, sondern tief in der Dorfgemeinschaft verankert. Kommt der Pope, der selbst Bauer ist, auf die Plateia, ist er sofort in Gespräche und das dort stattfindende Leben eingebunden. Die Kirche direkt an der Plateia ist für ein kleines Dorf wie Filia groß und gut ausgestattet. Das gilt genauso für die vielen Kapellen rund um das Dorf, die meist gut erhalten sind und nicht museal wirken, sondern wie Orte, in denen Menschen ihren Glauben praktizieren.
Eng an die Kirche gebunden war auch der letzte Lehnsherr Georgos Karagiannopoulos, der – obwohl er seit über 100 Jahren tot ist – im Dorf immer noch als „große Persönlichkeit“ gilt. In der Schule wird er geehrt, da er ihren Bau aus seinem Vermögen finanzierte und auch die Lehrer bezahlte (heute setzt die von Evstratios und Georgos Kalfagianni für das Dorf gegründeten Kulturstiftung die finanzielle Unterstützung der Schule in diesem Sinne fort). Das Heimatmuseum in Filia ist in seinem ehemaligen Kontorhaus eingerichtet, das sein Sohn neben anderen Gebäuden an die Kirche verschenkte, als alle potenziellen Erben der Karagiannopoulou-Familie ausgestorben waren. Auch im Museum spielt seine Familie daher eine prominente Rolle, obwohl Georgos laut den Erzählungen im Dorf nicht immer integer agiert haben soll. Trotzdem bescheren seine formale Stellung und seine Rolle als finanzieller Förderer der Dorfgemeinschaft ihm bis heute Ruhm und Ehre. Seine Vorfahren und er haben die jüngere Geschichte des Dorfes sehr geprägt und im Dorfbild gibt es noch etliche Häuser, die vom Wohlstand seiner Besitzer in der Zeit des Feudalwesens zeugen.
Und die Dorfbewohner von Filia? Im Kafeneion sitzen fast ausschließlich alte Männer. Wie in anderen südlichen Ländern, läuft meist ein Fernseher oder auch ein zweiter. Das macht es schwieriger zu reden. Viele sitzen allein, ab und zu gibt es lebhafte Kartenrunden. Wenn immer mal wieder zwischen den Tischen gesprochen oder heftig diskutiert wird, schimmern Netzwerke durch, die für einen Außenstehenden nicht zu durchschauen sind und die wohl seit Jahrzehnten existieren. Alte Konflikte, alte Verbundenheit. Doch insgesamt sei die Solidarität in der Dorfgemeinschaft, so unsere Wirtin Meni, nicht mehr so wie früher.
Obwohl es nicht einfach war, die Sprachbarrieren zu überwinden, gelang es doch, in Deutsch (etliche der in Filia Lebenden haben in Deutschland gearbeitet), in Englisch oder via Übersetzungen, etwas über die Geschichte Filias über den großen Bevölkerungsaustauschs 1923 zur Zeit der Kleinasiatischen Katastrophe zu erfahren. Denn unser inhaltliches Anliegen während unseres Besuchs in Filia war es, mehr darüber zu erfahren, wie das kleine Dorf diese Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts erlebt hat. Zwar lag das bestehende Osmanische Reich längst in Scherben und gehörte Lesbos zur Zeit des großen Bevölkerungsaustauschs bereits zu Griechenland. Aber die Umwälzungen, die entstehen, wenn sich Machtverhältnisse neu organisieren, waren damals in vollem Gang: Was hat sich in Filia getan und reichen die Ereignisse der damaligen Zeit bis in die Gegenwart von Filia hinein? Dies waren einige unserer Fragen.
Natürlich lässt es sich auf der Ebene eines kleinen Dorfs nur schwer rekonstruieren, was sich vor über hundert Jahren ereignete, als sich Muslime in Richtung Türkei und Orthodoxe nach Griechenland aufmachen mussten. Dazu gibt es jede Menge offizieller, geschichtlicher Dokumente, wie den Lausanner Vertrag aus dem Jahr 1923, der diesen Bevölkerungsaustausch regelte. Noch einige Jahre zuvor, nach dem Ersten Weltkrieg, hatte der Vertrag von Sèvres (1920) das Erbe des Osmanischen Reichs aufgeteilt und die Türkei auf ein kleineres Maß reduziert. Doch die Türkei hatte unter Atatürk im Griechisch-Türkischen Krieg militärisch dafür gesorgt, dass ein neuer Vertrag geschlossen werden musste. Die kleinasiatischen Gebiete, die ursprünglich an Griechenland gegangen waren, wurden mit dem Vertrag von Lausanne wieder türkisches Territorium und ein Bevölkerungsaustausch vereinbart. Daraufhin kamen zehntausende orthodoxe Griechen ins nahegelegene Lesbos.
Das ist die offizielle Geschichtsschreibung. Aber was es für die Menschen persönlich bedeutete, als sie sich auf den Weg von der Türkei nach Filia machten und ihre Existenz neu organisieren mussten, darüber gibt es wenig Dokumente. Die Augenzeugen sind verstorben. Geblieben ist vor allem das, an was sich die Nachkommen aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern über die Jahrzehnte hinweg erinnern. Daraus lässt sich ein, wenn auch nur ungefähres Bild zeichnen.
In Summe wurden vor gut hundert Jahren etwa 1,5 Millionen Menschen griechisch-orthodoxen Glaubens aus Kleinasien nach Griechenland vertrieben. Für alle bedeutete es, ihre alte Heimat und ihren Grund und Boden zu verlassen. Nach der Lausanner Konvention durften sie nur bewegliches Eigentum mitnehmen, während unbewegliche Eigentümer liquidiert wurden. Dass griechisch-orthodoxe Familien im Zuge des großen Bevölkerungsaustauschs direkt nach Filia kamen, lag meist an familiären Banden. Es gab Familien, bei denen die Frauen und Kinder in Filia lebten, während die Männer auf dem türkischen Festland Weidewirtschaft mit großen Schafherden betrieben. Sie kehrten im großen Bevölkerungsaustausch endgültig zu ihren Familien nach Lesbos zurück. So auch Menis Großvater, der zusammen mit Menis Vater und seinen Brüdern in Kleinasien mit Viehwirtschaft für das Einkommen der Familie sorgte. Die Männer pendelten zwischen beiden Standorten, und mussten dann im Zuge des Bevölkerungsaustauschs endgültig nach Filia zurückkehren. Dabei verloren sie ihr Eigentum an Land und Weiden in der Türkei. Die Männer versuchten wenigsten ihre Viehherde zu retten und organisierten ein Schiff, auf dem sie zusammen mit der Herde nach Lesbos gelangen konnten. Doch als das Schiff fast den Hafen von Mytilini erreicht hatte, warf der Kapitän Menis Großvater und die Brüder über Bord. Das Schiff und die Schafe verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Und das war beileibe kein Einzelfall.
Ansonsten wurden das Land und die Häuser der vormals in Filia lebenden Muslime von der Gemeinde übernommen und an zurück- oder neukommende Griechen vergeben oder verkauft. Inwiefern mehr Griechisch-Orthodoxe nach Filia kamen als Muslime gingen, lässt sich Stand heute kaum mehr feststellen. In den Jahren 1911/1912 lebten nach offiziellen Angaben 120 muslimische Familien in Filia, das war ungefähr ein Drittel der damaligen etwa 2500 Einwohner.
Das dem Lehnsherrn gehörende Land ging nach dem Verfall des Osmanischen Reichs an die Bauern über, die es zuvor bewirtschaftet hatten. Zudem konnten Bauern Land von der Kirche pachten, der zu dieser Zeit viele Grundstücke rund um Filia gehörten. Doch ist die Frage, wem damals welche Grundstücke gehörten, bis heute kaum zu klären. Es gab kein Katasteramt, in dem alles genau aufgezeichnet war. In jedem Fall gibt es keine großen Ländereien in Filia, da Land traditionell durch Realteilung vererbt wird.
Auf welche Weise die Ländereien von der Gemeinde an die ankommenden Griechen verteilt wurden, entzieht sich meiner Erkenntnis. Doch haben laut überlieferten Erzählungen viele Familien, die aus Kleinasien kamen und dort gut gelebt hätten, in Filia eher von Subsistenzwirtschaft gelebt. Die Felder hätten ihre Familie ernährt, aber zu mehr, wie dem Anbau von Produkten für den Verkauf an Dritte, hätte es für viele Familien nicht gereicht. Ob das daran lag, dass es weniger Ländereien zu verteilen gab als benötigt wurden, da mehr Griechen kamen als Türken gingen, lässt sich nur vermuten. In jedem Fall erklärt die Armut, weshalb viele Menschen aus Filia eine oder zwei Generationen später nach dem großen Bevölkerungsaustausch auswanderten. In die USA, nach Südamerika, Australien oder Anfang der 60er-Jahre nach Deutschland, wie dies Meni und ihr Mann Christos und Georgos sowie dessen Frau Meropi taten.
Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg in Griechenland im Großraum Athen Industrie und Unternehmen ansiedelten, setzte dies eine große Binnenwanderung in Gang, darunter waren auch viele Einwohner Filias. Die Auswanderer versprachen sich ein finanziell besseres Leben – was ihnen meist gelang: Sie sparten Geld und bauten sich später ein neues Leben in Filia oder auch in Athen auf. Hätte es für ihre Familien in Filia nach der zwangsweisen Umsiedlung aus Kleinasien bessere ökonomische Perspektiven gegeben, vielleicht wären sie nie weggegangen. Sicher gab es auch einige, die sich ein fortschrittliches, städtisches Leben im Ausland erhofften.
Und wie sieht es heute aus? Was reicht noch zurück in diese Zeit vor hundert Jahren? Schafe und Landwirtschaft spielen nach wie vor eine Rolle, aber es sind in der Regel nicht mehr die Haupterwerbsquellen der Familien in Filia. Zwar haben viele immer noch Schafe und Olivenhaine (die, wie gesagt, in Realteilung vererbt werden). Aber diese dienen entweder dem Eigenbedarf oder Nebenerwerb. Den größten Teil des Familieneinkommen wird in Filia mit Handwerksberufen und anderen Tätigkeiten verdient. Heute seien mindestens hundert Schafe notwendig, um davon eine Familie zu ernähren, meinte ein Grieche in einem Gespräch auf der Plateia, eine solche Anzahl hätten aber nur wenige.
Diejenigen, die in größerem Stil von der Viehwirtschaft leben, produzieren in erster Linie Schafmilch, die sie nach dem Melken (meist maschinell) direkt an eine der naheliegenden Fabriken liefern. Diese wiederum stellen daraus vor allem Käse her, der als Feta auch in der Europäischen Union verkauft wird, zum Beispiel an eine bekannte deutsche Handelskette. Laut Einschätzung eines in die USA ausgewanderten Griechen, der aus Filia stammt, könnten heute siebzig bis achtzig Familien in der Umgebung rund um Filia von der Schafzucht leben. Aus seiner Sicht wären aber nicht nur hundert, sondern mindestens zweihundert Schafe notwendig, um die Existenz einer Familie zu sichern, verknüpft mit EU-Subventionen, die für die Schafshaltung fließen. Da für so viele Schafe aber nur schwer Weideflächen und die nötigen Arbeitskräfte zu finden sind, ist es effizienter, die Schafe in riesigen Ställen zu halten und mit Viehfutter zu ernähren. Die romantischen Bilder von kleinen Schafherden, die auf grünen Wiesen unter Olivenbäumen grasen, scheinen heute eher in die Rubrik Tourismuswerbung zu gehören, als dass sie die wirtschaftliche Realität in Griechenland abbilden.
In Filia, wie vieler Orts, ist die Erzeugung von Olivenöl mittlerweile problematisch. Ihre Ernte ist, da sind sich meine verschiedenen Gesprächspartner einig, aufgrund der Kosten für externe Helfer schlicht zu teuer. Georgos rechnet vor: Während noch vor einigen Jahrzehnten ein Liter Olivenöl der Tageslohn für einen Erntehelfer gewesen sei, liege er heute bei mindestens siebzig Euro pro Tag. Umgerechnet seien das in etwa 20 Liter. Damit lohne sich das Geschäft jenseits der Produktion für den Eigenbedarf nicht mehr.
Was sich in den letzten hundert Jahren in Filia in der Landwirtschaft entwickelt hat, ist jedoch beileibe kein Einzelphänomen, sondern zumindest ein europäisches. Wenige größere Bauern betreiben über schiere Masse eine maschinelle Landwirtschaft, während das Gros der ursprünglichen Landwirte nur noch kleine Flächen im Nebenerwerb bewirtschaftet. Dies gilt auch für Filia.
Was dies für die Zukunft bedeutet? Kommen die Menschen, die Filia mangels Lebensperspektiven verlassen haben, weiterhin im Sommer in ihr kleines Dorf zurück? So wie es in Griechenland stets Tradition war und immer noch ist. Oder reißt das Band irgendwann ab, weil ihr neues Leben in Athen oder anderswo sie so absorbiert, dass ihr Dorf mit ihren zurückgebliebenen Eltern oder Großeltern langsam ausstirbt? Wie wir dies aus anderen Ländern, ob Deutschland, Italien oder anderswo her kennen: Dörfer vergreisen und wenn die Alten nicht mehr da sind, steht ihre Existenz auf dem Spiel
Welchen Weg Filia gehen wird, bleibt offen. Beispiele zeigen, dass Dörfer eine Zukunft haben, wenn sie selbst aktiv werden und gemeinsam an einem Strang ziehen, um ihren Lebensraum attraktiver zu gestalten. Für sich und für andere Menschen, wie Touristen. Von allein regelt sich jedoch nichts und gerade für Filia ist der Staat, der alles regelt, weit weg. Daher wünsche ich diesem kleinen Dorf mit seinem Charme auf den zweiten Blick, dass es seine eigenen Wege findet, um das Dorf am Leben zu halten.
[1] U3L = Universität des 3. Lebensalters der Goethe-Universität Frankfurt am Main