Das Dorf Filia auf Lesbos

von Margit Meßmer

Fília liegt im Norden der Insel in einem weiten Talkessel auf ca. 400 m über dem Meeresspiegel, etwa 7 km von der nächstliegenden Bucht entfernt. Im Gegensatz zu den Küstenorten ist hier das Klima im Winter rauer, wolkenverhangener. Die bis zu etwa 600 m hohen Bergketten im Norden, Osten und Süden schützen jedoch vor zu heftigen Winden.

Filia. Foto: M Meßmer, 2015

Das Dorf und seine Struktur

Auffallend ist die kompakte Bebauung des Dorfes, die lediglich an den Rändern entlang der Landstraßen in vereinzelte Neubauten ausfranst. Die engen, verwinkelten Gassen zwischen den Häusern bieten im Sommer Schatten, die kleinen Höfe sind zu den Gassen hin teilweise durch ca. 2 m hohe Mauern begrenzt. Ein zweiflügeliges Hoftor, traditionell aus Holz oder neuerdings aus Metallgitter, schafft mehr oder weniger Privatsphäre.

In der Dorfmitte laufen die Gassen auf den Dorfmittelpunkt zu. In der Mitte des Hauptplatzes steht ein riesiger Baum, der ihn überschattet. Nach Süden wird er durch das Tor zum Vorplatz der Kirche beziehungsweise deren Nordwestecke begrenzt. Der Kirchturm steht etwas weiter südlich, innerhalb der Einfriedung um die Kirche und neben der Gasse, die von Süden auf den Platz führt. Die vor dem Hauptportal angeordneten Arkaden verlaufen parallel zu dieser Gasse und der, mit Sockelmauer und Zaun abgegrenzten Vorfläche. Nördlich der Kirche erhebt sich ein imposantes, zweigeschossiges Herrenhaus mit breitem Balkon, in dem inzwischen ein kleines Museum eingerichtet ist. Nach Norden und Westen bilden zwei Kafeneía, ein Metzger- und ein kleiner Lebensmittelladen die Raumgrenzen des zentralen Platzes.

Der Dorfmittelpunkt von Filia. Fto: M. Meßmer

Die nach Osten führende, schmale Gasse weitet sich nach ca. 20 m zu einer weiteren, deutlich größeren Plateía, die jedoch als die kleine, weil nachrangige, Plateía bezeichnet wird. Umstanden wird sie von einer kleinen Kapelle, einem Kafenion, einem weiteren Metzger-, sowie je einem Lebensmittel- und Bäckerladen und der Post. Auf dem spitzen Eckgebäude zwischen zwei auf den Platz zulaufenden Gassen hängt über dem Eingang noch das Schild der inzwischen aufgelösten Frauenkooperative. Nördlich zwischen großer und kleiner Plateía wurde offensichtlich ein Gebäude abgerissen, was den Blick auf ein 1877 errichtetes langes Steingebäude frei gibt. Die Fläche davor ist mit Amphoren zwischen den noch unbepflanzten Beeten gestaltet.

Die beiden zentralen Dorfplätze sind mit rötlichen Sandsteinplatten gepflastert, während die ursprüngliche Feldsteinpflasterung in den Gassen weitgehend mit Beton überdeckt wurde, dessen Oberfläche zur Mittelachse hin ein Gefälle aufweist. Niederschläge werden so schneller abgeleitet; die Gasse verwandelt sich dann in eine offene Regenrinne. Zwecks besserer Griffigkeit sind in die Oberfläche – insbesondere in Hanglagen – mit der Kelle Rillen eingeritzt. Oft sieht man auch noch die Spuren von Katzen oder Hunden beziehungsweise Fußabdrücke, die sich im noch frischen Zement verewigt haben.

Wasserrinne in der Gassenmitte. Foto: M. Meßmer

An die ehemaligen türkischen Bewohner erinnern die Moschee und das kleine Minarett am nördlichen Dorfrand unweit des dort in Ost-West-Richtung verlaufenden Flüsschens. Wegen der geografischen Nähe von Lesbos zum türkischen Festland hat ein beträchtlicher Teil der heutigen griechischen Bewohner Fílias Vorfahren, die in der heutigen Türkei gelebt hatten und 1922 nach der „Kleinasiatischen Katastrophe“ im Zuge des Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland nach Griechenland umsiedeln mussten. Die seelischen Verletzungen der damaligen Auseinandersetzungen sind noch immer zu spüren, wenn Familiengeschichten erzählt werden. Die Nachfahren kennen noch die Herkunftsorte ihrer Eltern und Großeltern,  ja haben diese teilweise bereits im Auftrag der Vertriebenen besucht. Der auf Lesbos gesprochene Dialekt kennt zahlreiche Vokabeln, die der türkischen Sprache entlehnt sind.

Traditionelle Architektur

Der vorherrschende Gebäudetypus besteht aus einem zweigeschossigen, rechteckigen Natursteinbau mit ca. 60 cm dicken Außenwänden aus grauen, meist unverputzten Steinquadern. Diese traditionellen, älteren Bauernhäuser sind ca. 4 bis 6 m breit und 8 bis 10 m lang. Das Erdgeschoss ist relativ niedrig und wurde früher zur Lagerung der Feldfrüchte (Öl, Weizen, auch Käse etc.) genutzt. Eine Außentreppe führt vom kleinen Hof zur zweiflügeligen Tür im Obergeschoss, die über einen Mittelgang links und rechts zwei Räume erschließt. Einer davon war der salóni, die ‚gute Stube’ zum Empfang von Besuchern, der andere diente als Schlafraum. Jedes Haus verfügt über einen Hof, dessen doppelflügeliges Eingangstor aus Holz, das – ebenso wie das der hohen schmalen Holzfenster – entweder in Brauntönen lasiert oder in blauen bis dunkelgrünen Farben gestrichen ist.

Traditioneller Haustyp

Die etwas vornehmere Variante jüngeren Datums sind Häuser mit vergleichbarem Typus, jedoch innen liegender Treppe und Eingangstür im Erdgeschoss von der Gasse aus. Diese führt auch hier in einen Mittelflur von dem auch über die um 180° gewendelte Treppe das 1. OG erschlossen wird. Die Räume dieser Häuser sind deutlich höher als die bäuerlichen Grundtypen, ein Luxus im heißen Sommer. Zusätzlich dazu ist über die Fenster an der Vorder- und Rückseite eine Querlüftung möglich.

Die Innenräume wurden vor allem durch Textilien gestaltet. Wollteppiche auf Boden und Wänden sorgten früher für angenehmere Oberflächentemperaturen. Die Herstellung der textilen Einrichtungsgegenstände lag in der Hand der Frauen[1]. Neben den Teppichen tragen noch heute Handarbeiten wie gestickte oder gehäkelte Deckchen und Vorhänge mit aufwändigen Lochstickereien zur Dekoration der Wohnräume bei. Gekocht wurde in Tontöpfen auf einem Rost über dem Kaminfeuer. Der Backofen und die Küche lagen außerhalb des Hauses im Hof in eingeschossigen Anbauten beziehungsweise kleinen, separaten Gebäuden. Im Sommer, das heißt von Juli bis September, wohnten früher viele Familien in Hütten in den Bergen, in der Nähe ihrer Herden.

Soziale und technische Infrastruktur

Biegt man von der Landstraße in das Dorf ein, so kommt man zunächst an einem ca. 50 m langen Schulgebäude aus den 50er oder 60er Jahren vorbei, in dem die Grundschule untergebracht ist. Etwas weiter ins Dorf hinein stehen die Realschule und die Gesundheitsstation. Die ärztliche Grundversorgung wird durch frisch examinierte Mediziner gewährleistet: Absolventen der medizinischen Fakultäten Griechenlands verbringen grundsätzlich ihr „Praktisches Jahr“ in den Dörfern. Die junge Ärztin in Fília ist mit dem Gesundheitszentrum in der Kreisstadt und ihren jungen Kollegen in den umliegenden Ortschaften gut vernetzt. Die Apotheke am westlichen Dorfrand ergänzt das Gesundheitsangebot.

Seit 1955 ist Fília elektrifiziert[2], das heißt mit Strom versorgt. 1959 wurden die Steinkanäle der Abwasserentsorgung durch Rohrleitungen ersetzt und die Haustoiletten angeschlossen. Wegen des steinigen Untergrunds gab es vorher keine Sickergruben, sondern Auffangbehälter der Abwässer über Straßenniveau,  die im Winter bei Regen über die Straßen entleert wurden. Die Kanalisation funktioniert bis dato ohne Wasseraufbereitung, das heißt die Abwässer werden in den Bach geleitet und gelangen von dort direkt ins ca. 7 km entfernte Meer. In Petra, einem ca. 20 km entfernten Küstenort, wird gerade eine Abwasser-Kläranlage gebaut.

Ab 1969 begann in Fília der Anschluss aller Häuser, deren Besitzer es sich leisten konnten, ans Wasserleitungsnetz. Bis dahin holten sich alle Dorfbewohner ihr lebensspendendes Nass in Eimern oder Kanistern an den öffentlichen Zapfstellen in ihrer Nähe, von denen noch heute einige überdauert haben. Einige der Häuser hatten sogar einen eigenen Brunnen im Hof. Im Laufe der Jahre versiegten einige Quellen, sodass zwischen 1975 und 1980 die Probleme bei der Wasserversorgung zunahmen. Die Gemeinde musste sich Wasser aus anderen Dörfern holen bis Anfang der 80er Jahre ein 150 m tiefer Brunnenschacht gebohrt wurde, von dem das Wasser seit 1985 in zwei am Berghang über dem Dorf gelegenen Behälter gepumpt wird. Seither ist die Wasserversorgung stabil, jedoch klagen Bauern über ein zunehmendes Versiegen kleiner Quellen auf den Grundstücken außerhalb des Dorfes.

Öffentliche Wasserzapfstelle vor der Kirche

Modernisierung und Neubauten

Heute sind kaum mehr private, gemauerte Backöfen vorhanden. Sie wurden im Laufe der letzten Jahrzehnte abgebrochen um in einem erweiterten Anbau zum Haupthaus Platz für eine moderne Küche und/oder ein Badezimmer zu schaffen. Bei den traditionell einfacheren Gebäuden mit außen liegender Treppe bedeutet dies mitunter, dass zumindest das Bad bzw. die Dusche nur über den Hof erreichbar ist. In vielen der alten Häuser sind mittels eines Deckendurchbruchs mit Wendeltreppe die Schlafräume im OG mit dem in einen Wohnraum verwandelten, ehemaligen Lagerraum im Erdgeschoss direkt verbunden worden. Wo dafür die Deckenhöhe zu niedrig war, wurden die Böden dieser Räume, da sie im Lagerraum aus gestampfter Erde bestanden, nach unten ausgeschachtet – soweit möglich bei dem teilweise felsigen Untergrund. Meist wurde dann die neu eingezogene Bodenplatte gefliest, das heißt dem modernen Wohnstil angepasst, die Holzdecken darüber teilweise durch Betondecken ausgetauscht. Der vorhandene, feuchte Innenputz aus Lehm und Stroh an den Steinmauern wurde abgeschlagen und durch Gips- bzw. Zementputz ersetzt; Zwischenwände aus Holz und Schilf wurden beseitigt und teilweise mit Ziegeln aufgemauert.

Wenn man sich dem Dorf über die Passstraße von oben nähert, fallen zuerst die vielen neu gedeckten Dächer ins Auge. Dabei handelt es sich um den dringend notwendigen Ersatz der alten Mönch/Nonne Dachziegel. Diese traditionellen, halbzylindrisch gebogenen Dachpfannen, die abwechselnd mit der Rundung nach oben und unten verlegt wurden, mussten immer wieder zurechtgerückt werden um das Eindringen von Regenwasser zu verhindern. Sie waren offensichtlich für das – im Vergleich zum südlichen Mittelmeerraum – relativ feuchte Klima mit zunehmend starken Regengüssen[3] ungeeignet und an vielen Stellen undicht geworden. Die neuen Dachpfannen haben eine vergleichbare, wenn auch gleichmäßigere Farbe, sind durch Nut und Feder-Rillen gegen Verrutschen gesichert und wegen ihrer größeren, halb flachen Form insgesamt leichter, was Holz für den Dachstuhl spart. Die Firstenden und Gebäudeecken der flachen Walmdächer werden neuerdings mit figürlichen Endziegeln betont.

Modische Endziegel der Dachecken. Foto: M. Meßmer

Je nach finanziellen Mitteln und dem Geschmack der Besitzer sind die Höfe, soweit einsehbar, liebevoll bis aufwändig gestaltet: Im Sommer sind sie Wohnbereiche unter freiem Himmel. Die einst hohen Mauern sind auf halbe Höhe reduziert und nach oben mit einem blickoffenen, meist schmiedeeisernen Zaun ergänzt. Die gepflasterten Vorplätze der Häuser sind Stellfläche für allerlei Blumentöpfe; bei ausreichend Platz gibt es auch ein Blumenbeet oder kleine Bäume.

Moderner Innenhof

Auf den Flachdächern der eingeschossigen Anbauten der offensichtlich häufig bewohnten Häuser findet man Solarthermiepaneele mit Speicherbehältern für das erwärmte Wasser, das vermutlich überwiegend als Brauchwasser (zum Beispiel zum Duschen) verwendet wird, weniger für Warmwasserheizungen. Beheizt werden die Wohnräume und Bäder heute überwiegend durch Split-Klimageräte, die sowohl zum Kühlen als auch zum Heizen verwendet werden können. Diese sind einfacher zu installieren und bieten auch in der Sommerhitze angenehme Temperaturen. Die ehemaligen offenen Kamine sind entweder vermauert oder werden im Aufenthaltsraum im Erdgeschoss noch zur Beheizung genutzt. Inzwischen gibt es dafür auch doppelwandige Einbauöfen aus Schamott mit Glas-Frontplatte. Das Feuer in den Ofenkammern erwärmt den sie umgebenden Luftraum; mittels Ventilatoren wird die Warmluft ins Zimmer geblasen und sorgt so für eine gleichmäßigere Verteilung der Wärme und eine größere Behaglichkeit.

Entlang der Landstraßen nach Sígri (Westen) und Skoutáros (Norden) sowie am westlichen Dorfrand gibt es einige neuere, zum Teil noch im Rohbau befindliche Wohngebäude und gewerbliche Bauten. Der kleine Spielplatz für Kinder liegt ebenfalls im Nordwesten. Im Dorfkern haben reich gewordene Auswanderer an einigen Stellen die bestehenden Gebäude mit auffälligen Neubauten erweitert. Am nördlichen Rand, zwischen Dorf und Fluss hat sich ein moderner Milchverarbeitungsbetrieb angesiedelt, der in einer großen Halle Kuh-, Ziegen und Schafsmilch zu Yoghurt, Milchreis und Käse verarbeitet. Eine weitere, etwas ältere Halle der ehemaligen Milchkooperative am östlichen Dorfrand, nahe dem Friedhof, dient inzwischen nur noch als Milchumschlagsplatz.

Ein modernes Haus im Ensemble traditioneller alter Häuser

Bevölkerungsrückgang durch Abwanderung

Mein erster Eindruck, viele Häuser im Dorf würden leer stehen, relativierte sich im Laufe der Woche, insbesondere als die vielen Besucher aus Kaloní, Mytilíni oder Athen zum Osterfest ins Dorf kamen. Nach Einschätzung des stellvertretenden Bürgermeisters sind es nur ca. 5 % der ca. 500 Häuser, die aufgrund von nicht zurückkehrenden Auswanderern oder wegen Erbenstreitereien nicht mehr bewohnt werden. Viele Häuser werden jedoch von den Städtern nur als Sommerhäuser genutzt oder als Mitgifthäuser für die Töchter „aufgehoben“[4].

Etwa 15 % der Häuser zeigen Instandhaltungsdefizite. Besonders am nördlichen Dorfrand nahe der ehemaligen Moschee sowie im Süden zwischen Friedhof und Landstraße sind mehrere Häuser total zerfallen. Die Balken des eingestürzten Dachstuhls liegen zwischen den bröckelnden Umfassungsmauern, die kleinen Grundstücke sind mit Unkraut überwuchert, es riecht modrig. Vergleicht man die Bevölkerungszahlen von 1950 mit denen von 2011 wird dieser Eindruck nachvollziehbar. „Der Zensus von 1950 ermittelte noch 2900 Einwohner in Fília, 2011 war die Bevölkerung auf 680 Einwohner zurückgegangen“ klagt der ehemalige stellvertretende Bürgermeister. Nur zu einem kleinen Teil hat dieser drastische Bevölkerungsrückgang mit der abnehmenden Kinderzahl pro Familie zu tun, die von 5 bis 8 auf 1 bis 2 Kinder sank. Obwohl griechische Inselbewohner schon seit Jahrhunderten zur See fahren oder sich durch Fernhandel einen Lebensunterhalt verdienen, nahmen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts nun auch die Bauern die Gelegenheit wahr, in Europa als Arbeitsmigranten Geld zu verdienen. Zweifellos können die karge Landwirtschaft und die spärlich vorhandenen Arbeitsplätze in der Region als Hauptgrund für die Abwanderung betrachtet werden. Neben der Notwendigkeit, die Existenz außerhalb des Dorfes zu sichern, hatte in den 60er Jahren sicher auch die Anwerbung von Arbeitskräften der stärker industrialisierten Länder Nordeuropas eine große Anziehungskraft.  

Landwirtschaftlicher Strukturwandel

Für die soziale, wirtschaftliche und bauliche Entwicklung des Dorfes führte diese Abwanderung der jungen, arbeitsfähigen Bevölkerung zu einem schleichenden Strukturwandel. Einerseits kamen mit den Transferleistungen und dem Ersparten der Arbeitsmigranten auch finanzielle Mittel ins Dorf, nicht nur für Konsumgüter sowie die Modernisierung und Instandhaltung der Privathäuser. Die Schule, der Friedhof und Kapellen wurden mittels Spenden von reich gewordenen Auslandsgriechen, die in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts ausgewandert waren, gebaut, erweitert oder renoviert. Die privaten Investitionen der zurückgekehrten Arbeitsmigranten der Auswandererwelle der 1960er Jahre schafften Nachfrage von Handwerksleistungen und Baumaterialien, also Einkommen für verbliebene Dorfbewohner. Der Bauboom kurbelte die Wirtschaft an, durch bessere Ausbildung entstanden Berufe, die es vorher im Dorf nicht gab. In den regionalen Kreisstädten entstanden nicht nur Supermärkte, sondern auch kleine Geschäfte einheimischer Unternehmer. Die Inselhauptstadt Mytilíni wuchs als Oberzentrum noch rasanter durch Arbeitsplätze in Dienstleitungsbranchen, während einige größere Gewerbebetriebe aufgrund veränderter Marktbedingungen ihre Tore schlossen.

Andererseits, und noch verschärft durch die Veränderung der Anbaumethoden und Marktverhältnisse für Agrarprodukte, veränderte sich die landwirtschaftliche Produktion. Die Konkurrenz aus Übersee machte den Tabakanbau schon in der Mitte des letzten Jahrhunderts unrentabel. In etwa dem gleichen Zeitraum konnte Mehl deutlich billiger eingekauft werden, weshalb der Weizenanbau auf den Terrassen der umliegenden Berghänge aufgegeben wurde. In der Nähe von bestehenden Olivenhainen wurden Olivenbäume gepflanzt. Auf den größeren Terrassen weiden heute Schafe oder Ziegen.

„Heute lohnt sich die Gewinnung von Olivenöl in Fília nur mehr für den Eigengebrauch, wenn alle Familienmitglieder mithelfen“ verriet uns ein Bewohner mit eigenen Olivenbäumen. „Auf der Peloponnes werden die Oliven auf großen Feldern kostengünstig mithilfe von Maschinen geerntet, während wir hier auf den kleinteiligen Anbauflächen teure Arbeitskräfte brauchen. Um wenigstens einen kleinen Gewinn für den Besitzer zu erwirtschaften, müssen wir hier mindestens 20 Liter Öl gewinnen, damit die € 50 Tagelohn für albanische Erntehelfer wieder reinkommen. Obwohl die Terrassen auch heute noch über ein Bewässerungssystem verfügen, sind die Erträge rückläufig. Unsere Eltern haben die Bäume noch intensiv gepflegt und Naturdünger ausgebracht, heute macht das keiner mehr.“ Die Pflege der vorhandenen Obst- und Walnussbäume sei wegen fehlender Arbeitskräfte ebenso rückläufig, die Früchte seien vermehrt von Schädlingen befallen, so der gleiche Informant. Obwohl es inzwischen mehr Bäume vor allem in den Tallagen gäbe, weil sie kaum mehr für Heizzwecke verwendet würden, seien viele der Mandel-, Birnen-, und Apfelbäume inzwischen kaputt. Auch der Gemüseanbau würde von den überwiegend älteren Dorfbewohnern nicht mehr so intensiv wie früher betrieben.

Giórgos und Merópi

Am Dorfrand findet man weiterhin einige Grundstücke mit Weinreben für den eigenen Gebrauch. Die Tradition, im Frühjahr hórta, eine Art wilder Spinat, in den Bergen zu ernten hat sich offenbar noch erhalten, ebenso die gelegentliche Suche nach Pilzen in den feuchten Wintermonaten. Wildkräuter zur Teebereitung oder zum Würzen der Speisen findet man bequemer im Supermarkt. Nach Auskunft der jungen Ärztin wollen sich ihre Patienten auch bei harmlosen Erkältungskrankheiten nicht mehr mit traditionellen Mitteln selbst kurieren, sondern erwarten die Verschreibung von Pillen aus der Apotheke. Eine Fabrik in der Kriesstadt Kaloní, die aus heimischen Pflanzenextrakten Gerbe- und Färbemittel herstellte, hat in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ihre Produktion beendet.

Die ehemals intensive Nutzung der Terrassen ging einher mit einer ständigen Wartung der sie stützenden Trockenmauern. „In Fília haben wir keinen mehr, der diese Mauern bauen kann“ erzählt uns ein älterer Bewohner, der die Veränderungen in den letzten 50 Jahren beobachtet hat. So droht mit dem Rückgang der landwirtschaftlichen Nutzung auch eine schleichende Veränderung der die Umgebung Fílias prägenden Kulturlandschaft mit zunehmend schlechteren Voraussetzungen für eine zumindest teilweise Subsistenzwirtschaft.

Auf den größeren Grundstücken am Dorfrand werden vereinzelt Hühner gehalten. Was auf den ersten Blick eher wie eine Autowerkstatt an der Landstraße aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ein Kuhstall. Kühe sieht man jedoch selten auf den Weiden, im Gegensatz zu den zahlreichen Schaf- und Ziegenherden auf den umliegenden Feldern und Berghängen. „Öl- und Schafwirtschaft wird subventioniert“, so der ehemalige stellvertretende Bürgermeister. Was der Olivenölproduktion in Fília nicht zu nutzen scheint, kommt hier zumindest der Schafzucht zugute, die der Milchproduktion und der Fleischversorgung dient. Die Schafwolle, früher Rohstoff für Kleidung und Teppiche, wird jetzt wegen ihrer geringen Qualität und fehlender Nachfrage verbrannt.

Die kunstvollen einheimischen Stickereien werden inzwischen für gut zahlende Touristen hergestellt. Eine Rentnerin äußerte mir gegenüber ihr Bedauern, dass Handarbeiten für die Aussteuer heute weitgehend der Vergangenheit angehörten, seit billige Importware aus China die Preise und die Wertschätzung dafür verdorben hätte. In der Folge verlören sich auch die Fertigkeiten und Kenntnisse für Stickereien sowie die Webstühle für das Weben der Teppiche. Auch das Töpferhandwerk wird aus Altersgründen vom letzten Töpfer in Fília nicht mehr praktiziert, aber an etlichen Orten der Insel werden sehr kunstvolle Töpferwaren nach alten Mustern wieder hergestellt und in Molivos als Kunsthandwerk und als Geschirr für Cafés und Restaurants teuer verkauft.

Verwaltungsreform

Jedes Dorf hatte früher einen eigenen Bürgermeister sowie einen Gemeinderat, deren Zuständigkeiten und Entscheidungsgewalt im Laufe der letzten Jahrzehnte jedoch immer mehr in Richtung höherer Instanzen verschoben wurde. Während das Dorf stetig Einwohner verliert sind die Kreisstadt und vor allem die Inselhauptstadt in den letzten Jahren stark gewachsen. Auch dort hat sich die Struktur der Arbeitsplätze stark gewandelt. Bis 2011 war Fília verwaltungstechnisch der Kreisstadt Kaloní unterstellt. Seither greift eine umstrittene Verwaltungsreform, nach der jede Insel eine einzige Verwaltungseinheit sein soll. Als drittgrößte griechische Insel hat Lesbos ca. 100.000 Einwohner und ist deshalb nach Meinung des ehemaligen stellvertretenden Bürgermeisters nicht so einfach zentral regierbar wie ihre kleineren Schwestern.

Die Konzentration der Verwaltungen und Zuständigkeiten in der Hauptstadt Mytilíni funktioniere deshalb nur sehr eingeschränkt. Die Folgen sind vielschichtig. So wurden auch aufgrund der Zentralisierung und aktueller Sparmaßnahmen in Griechenland in Kaloní Behördenmitarbeiter entlassen. Diese Verwaltungsreform entlastet vielleicht die öffentliche Hand bei den Personalkosten, führt jedoch bisher zu Einnahmeausfällen bei den Gebühren, weil beispielsweise seit Übertragung der Zuständigkeit für die Wasserversorgung von Kaloní nach Mytilíni noch keine Wasserrechnungen erstellt wurden. Darüber hinaus sind die Bürger jetzt gezwungen, für Ämtergänge weitere Wege auf sich zu nehmen, da sie jetzt bis in die Inselhauptstadt fahren müssen, um zum Beispiel einen Pass zu beantragen. Es gibt deshalb Forderungen nach einer Rückkehr zur alten Verwaltungsstruktur; die Chancen dafür sind in der aktuellen Legislaturperiode nach Einschätzung des ehemaligen stellvertretenden Bürgermeisters jedoch gering.

Trotz Einschränkungen beim Fischfang und erhöhter Vorschriftenflut in Bezug auf Lebensmittelherstellung und -vertrieb sind, laut Auskunft des gleichen Informanten, wegen der vielen Programme und Subventionen (vor allem für Ölwirtschaft und Schafzucht) 70 % der Bevölkerung europafreundlich eingestellt.

Wie könnte es weitergehen in Filia?

Zweifellos haben sich die Lebensbedingungen in Fília und anderen Dörfern auf Lesbos, ja europaweit, grundlegend verbessert. Stromversorgung, Wasserleitungen, Einkommensverbesserungen durch Arbeitsmigration und Transferleistungen, motorisierter Individualverkehr, Fernsehen usw. haben die dörfliche Ökonomie und Lebensweise immer mehr an die der Stadtbewohner angenähert. Gleichzeitig zeigen sich inzwischen Auswirkungen auf die Bewohnerstruktur und unmittelbare Umwelt, die die langfristige Existenz der dörflichen Lebensbedingungen beeinträchtigen.

Nach meinen wenigen Interviews und sicher oberflächlichen Beobachtungen während unseres kurzen Aufenthalts gibt es bisher kaum Anzeichen dafür, dass der drastische Bevölkerungsrückgang der vergangenen 60 Jahre aufgehalten oder gestoppt werden könnte. Immer mehr Nachkommen ehemaliger Bürger Fílias sind in Athen, Australien, Amerika oder Mittel- bzw. Nordeuropa geboren und haben abnehmende Bindungen zum Herkunftsort ihrer Eltern. Obwohl während der Osterfeiertage unseres Aufenthalts das Dorf spürbar belebter wurde, tragen diese Besucher kaum zu einer dauerhaften Stabilisierung des Ortes bei. Ebenso wenig wie die pensionierten Rückkehrer, die ihren Ruhestand im Dorf verbringen. Sie sorgen bestenfalls für das Überleben der örtlichen Kafeneía und Minimarkets sowie die Instandhaltung der Gebäude. Was fehlt sind junge, aktive Bewohner vom Schlag des Molkereiunternehmers, die für einen größeren Markt produzieren und damit die Milch der landschaftspflegenden Schafe und Ziegen verarbeiten. Er ist einer der zahlenmäßig wenigen Auswandererkinder, die zurückgekommen sind, um sich in der Heimat eine neue Existenz aufzubauen.

Eine Verwaltungsreform, die sämtliche Ämter und damit Arbeitsplätze in der Inselhauptstadt konzentriert, verschärft aus meiner Sicht die Abwanderung noch gravierender. Bewohner der umliegenden Dörfer wie zum Beispiel Fília können noch in die Kreisstadt Kaloní pendeln um dort einer wie auch immer gearteten Verwaltungstätigkeit nachzugehen. Die Entfernungen nach Mytilíni lassen das tägliche Pendeln nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt zu. Sie werden entweder arbeitslos oder sind gezwungen in die Hauptstadt umzuziehen. Das physische und wirtschaftliche Wachstum der größeren Städte geschieht auf Kosten der Überlebensfähigkeit der Dörfer, auch wenn sich in der Touristensaison etliche Dorfbewohner in den beliebten Küstenorten ein Zubrot verdienen können.

Schreibt man den Trend fort, so ist zu erwarten, dass die Bevölkerung von Fília in naher Zukunft weiter schrumpft. Schrumpfungsprozesse haben vielfältige, sich gegenseitig verstärkende Auswirkungen auf die soziale und technische Infrastruktur. Weniger Einwohner bedeuten weniger Einnahmen der Gemeindekasse, es kann weniger investiert werden. Kann und will man dieser Entwicklung gegensteuern? Wie lässt sich der momentane Trend umkehren?

Ein Vorbild könnte die neu gegründete Energiegenossenschaft auf der Insel Sifnos sein. Dort haben sich eine ehemalige Athener Journalistin, ein Touristenführer und aktive Inselbewohner sich auf ihre natürlichen Ressourcen, das Meer, die Sonne und den Wind besonnen und wollen unabhängig von der Energieversorgung durch die Schiffen werden, die jede Woche Diesel liefern[5]. Unterstützung erhält das Pilotprojekt von Energiegenossenschaften und energiegenossenschaftlichen Vereinigungen aus anderen Ländern Europas. Darüber hinaus arbeitet die Genossenschaft „ … gerade daran, die Mülltrennung auf Sifnos neu zu organisieren. Dazu sollen die getrennten Wertstoffe von den Leuten gekauft und zum Recycling wieder verkauft werden. So sollen die Inselbewohner merken, dass man mit Ökologie auch Geld verdienen kann.“ [6]

Es bleibt spannend, wie Fília mit seinen Bewohnern und ihren Nachkommen weiterhin ‚Freunde’ findet, die es am Leben erhalten.


[1] S.Eleftherios Pavlidis/Jana Hesser (1986): Women’s Roles and House Form and Decoration in Eressos, Greece. In: Jill Dubisch, (ed.) Gender and Power in Rural Greece. Princeton: Princeton University Press

[2] Diese und weitere Informationen zur technischen Infrastruktur stammen überwiegend von einem Bewohner Fílias sowie vom ehemaligen stellv. Bürgermeister

[3] Nach Einschätzung einiger Bewohner haben die Regenhäufigkeit und Heftigkeit in den letzten Jahren zugenommen. Während unseres Aufenthalts erlebten auch wir mehrere heftige Regenschauer und sogar ein starkes Gewitter mit Hagelschauer.

[4] siehe dazu insbesondere das Kapitel über die Mitgift in: Ulrike Krasberg (1996): ‚Kalithea’, Männer und Frauen in einem griechischen Dorf. Frankfurt/M: Campus. S. 88 ff

[5] Quelle: http://www.klimaretter.info/energie/hintergrund/18775-reif-fuer-die-erneuerbare-insel

[6] Quelle: http://www.genossenschaften.de/bundesgesch-ftsstelle-energiegenossenschaften-auf-internationaler-konferenz-athen-chancen-f-r

Dieser Beitrag ist in leicht veränderter Fassung erschienen in: Ulrike Krasberg (Hg.)(2015): Kali Anastasi. Kulturwissenschaftliche Exkursion ins österliche Griechenland von Studierenden der Universität des 3. Lebensalters. Frankfurt/M: Universität des 3. Lebensalters an der Goethe-Universität Frankfurt/M. Forschung und Projekte Nr. 5.

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