Von Ulrike Krasberg
Als ich an Ostern 2015 zum ersten Mal mit einer Gruppe meiner Studierenden an der Universität des 3. Lebensalters in Frankfurt/M (U3L) eine Forschungsexkursion in Filia durchführte, lud uns am Ende des Aufenthalts Pater Simeon ein, das für die Öffentlichkeit geschlossene Heimatmuseum im Dorf zu besuchen. Das Museum, dessen Sammlung und Inventar der Kirche gehören („Heimatmuseum der Kirchengemeinde Filia“ genannt), beherbergt Objekte der „Volkskultur“ aus dem letzten und vorletzten Jahrhundert: Geschirr, Haushaltsgegenstände und landwirtschaftliche Geräte, Bücher, Ikonen und liturgische Objekte, Kleidung aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. All dies wird in den Räumen eines „Herrenhauses“ von 1875, gelegen an der Agora, aufbewahrt.

Ostern 2015, U3L-Studierende und Pater Simeon im Museum
Bevor die wohlhabenden Besitzer des Gebäudes – die Familie Karagianopoulou, einst Archonten (Lehnsherren) von Filia – kinderlos starben, schenkten sie es 1972 der Gemeinde Filia und die Sammlung darin der Kirche, und nun gehört es zu den Aufgaben des jeweiligen Priesters von Fília sich um die Sammlung zu kümmern. Die Objekte des Museums liegen zwar in Vitrinen, Schränken und Truhen oder hängen an den Wänden, waren bislang aber nicht zu einer Ausstellung aufgearbeitet worden. „Das muss alles noch gemacht werden!“ erklärte uns der Pope mit einem Seufzer: „Aber ich weiß nicht wie man das macht. Ich bin ja nur der Priester!“, (aber er wusste, dass ich jahrelang als Ethnologin in einem Museum gearbeitet hatte!). Die Gruppe war begeistert: „Wir kommen nächstes Jahr wieder und helfen dem Popen eine richtige Ausstellung aufzubauen!“ Also bot ich, zurück in Frankfurt, an der U3L zwei Seminare zum Thema „Museologie“ an, um die potenziellen TeilnehmerInnen für die Arbeit fit zu machen.
Heimatmuseum – Ort der „guten alten Zeit“
Ein Heimatmuseum stillt Wehmut nach der „guten alten Zeit“. Die Dinge in diesen Museen sind sozusagen gerettet, dem Kreislauf des Erschaffens und Vergehens entzogen. Sie sind zu Semiophoren geworden. Ein Begriff, den Krzysztof Pomian in „Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln“ (1998: 69) entwickelte. Damit bezeichnete er Dinge, die keinen Gebrauchswert mehr haben, gar als Abfall gesehen werden. Wenn sie in einem bestimmten Stadium ihrer Existenz ein Museumsobjekt geworden sind, dann repräsentieren sie so etwas wie den Geist oder die Weltsicht der Zeit als sie noch aktive Gebrauchsgegenstände waren. Für Besucherinnen und Besucher eines Heimatmuseums können bei der Betrachtung der Gegenstände diese jetzt unsichtbare, vergangene Welt vor dem inneren Auge auftauchen. Es entsteht eine als ganz persönlich empfundene Erinnerung, die sich mit einer bestimmten historisch realen Zeit verbindet. Diese so erlebbare Zugehörigkeit zu einer Zeit und einem Ort gibt Sicherheit: Hier sind meine Wurzeln, diese Dinge sind Teil meiner eigenen Geschichte.
In der modernen Welt, die sich in einem immer schnelleren Rhythmus verändert, wird es schwieriger Vertrautheit mit Dingen herzustellen. Wenn Dinge lange Zeit zum eigenen Alltag gehören werden sie „Lebensbegleiter“, bekommen Gebrauchsspuren und werden dadurch für heutige Betrachter authentisch. Aber wer hat noch einen Dachboden, auf dem das Hochzeitskleid der Mutter oder der Schaukelstuhl des Großvaters aufbewahrt werden können? Diese Erinnerungsfunktion können Museen übernehmen.
Die Repräsentanz vergangener Lebenswelten ist auch für Jüngere oder Fremde erfahrbar. Dass die Dinge je nach Betrachterin oder Betrachter unterschiedliche Assoziationen hervorrufen, ist dabei unerheblich. Wenn es KuratorInnen gelingt, die Dinge so zueinander zu ordnen, dass aus ihnen heraus eine Atmosphäre, eine Aura entsteht, und Informationen über die Dinge – sparsam aber zielgerichtet – die Atmosphäre vertiefen, dann können Einheimische wie Fremde, Junge wie Alte in einem Heimatmuseum in eine durchaus „verzaubernde“ Welt (im Sinne Orhan Pamuks „Museum der Unschuld“ in Istanbul) eintauchen.
Erster „Museums-Aufenthalt“ im Dorf
Im September 2017 kamen acht Studierende, die pensionierte Museumsethnologin Gerda Kroeber-Wolf, die wir für den Aufbau der Dauerausstellung gewinnen konnten, für zwei Wochen nach Filia. Während des vorhergehenden Sommersemesters hatte eine Kustodin des Weltkulturenmuseums in Frankfurt im Magazin des Museums die Gruppe geschult wie eine Bestandsaufnahme musealer Objekte vorzunehmen ist, und wie Objekte gepflegt und aufbewahrt werden sollten.
In Filia mussten wir uns zunächst mit der Sammlung bekannt machen. Sie bestand einerseits aus dem Nachlass der Familie Karagianopoulou: Kleidung aus der Zeit um 1900, Bücher, Reisesouvenirs, Einrichtungsaccessoires, lauter Objekte, die aus den Haushalten der Familienmitglieder aussortiert und im Haus ausgelagert worden waren lange bevor das Gebäude der Gemeinde Filia und der Kirche geschenkt wurde. Zudem waren nach und nach auch von den Dorfbewohnern alte Dinge in die Sammlung gegeben worden. Sogar während unseres Aufenthaltes kamen immer wieder Dorfbewohnerinnen, die vor allem von ihren Müttern und Großmüttern handgearbeitete Textilien brachten, wie handgewebte Decken, Gardinen oder Tischdecken. Sie waren den Besitzerinnen zu schade zum Wegwerfen, entsprachen aber nicht mehr dem heutigen Einrichtungsstil und sollten jetzt im Museum einen würdigen Platz finden.

Jedes Objekt der Sammlung nahmen wir in die Hand, versahen es mit einer Nummer, fotografierten es, beschrieben es nach Material und Funktion, oft nach Auskunft von Dorfbewohnerinnen, die wir befragen konnten. Am Ende hatten wir rund 500 Objekte katalogisiert und schließlich auch digitalisiert.

Gerda und Ursula beim Katalogisieren
Auf der Agora vor dem Museum gab es immer wieder den einen oder anderen Kaffeehausbesucher, der bereit war bei den Arbeiten im Museum zu helfen. Therapi zum Beispiel, ein früherer Ortsvorstand. Er kam fast täglich und half vor allem Objektfotos zu machen, die für die Katalogisierung des Gesamtbestands der Sammlung notwendig waren. Der besseren Lichtverhältnisse wegen wurden viele Objekte vor dem Museum auf der Agora fotografiert. Ein besonderes Amüsement für die Kaffeehausbesucher auf dem Platz war das Fotografieren der Damenunterwäsche mit Lochstickerei, bei dem sich Therapi es sich nicht nehmen ließ, die – im Vergleich zu heutiger Unterwäsche – riesengroßen Damenunterhosen in die Kamera zu halten.

Damenunterhose mit Lochstickerei
Was denkt das Dorf über das Museum?
Die älteren Männer, die meist auf der Agora sitzen, sind sich nicht sicher, ob es eine so gute Idee war „den Deutschen“ diese Arbeit zu überlassen. Was, wenn nach deren Abreise, das eine oder andere gute Stück in der Sammlung fehlt? Es geht das Gerücht im Dorf herum, dass einer der vorhergehenden Priester im Dorf sich an besonders schönen Objekten der Sammlung bereichert hatte, indem er sie verkaufte. Oder wenn was kaputt geht? So schien es etlichen auch keine gute Idee zu sein, Kinder ins Museum zu lassen, denn „Kinder machen bekanntlich ja alles kaputt“. Und Touristen? „Was gehen die die Sachen der Leute in Filia an?“ So ähnlich, glaubten wir, sehen viele Dorfbewohner das Museum. Die Sachen sollen schön aufbewahrt werden. Und ab und zu führt der Pope mal jemanden hinein, der sehen will, ob das, was er oder sie dem Museum gegeben hat, noch da ist. Und der Pope sollte dann natürlich auch auf Anhieb wissen, wo es steht oder liegt. Da wir die Objekte für die Ausstellung aber neu sortiert und zusammengestellt hatten, bekam der Pope nun Schwierigkeiten, weil er nicht mehr wusste, wo sie waren.
Zweiter Aufenthalt
Die Sammlung
Wieder in Frankfurt entwarfen wir während des folgenden Wintersemesters mit Hilfe der Fotos und dem vor Ort von den Dorfbewohnern erworbenen Wissen über die Objekte eine Ausstellungskonzeption. Bei unserem zweiten Aufenthalt, im Herbst 2018 begannen wir (die Gruppe und eine Filmemacherin, die unsere Arbeit in einem Videofilm dokumentierte) die Ausstellungskonzeption vor Ort umzusetzen. Wir hatten vor, die Objekte nach verschiedenen Themen als Ensembles zusammen zu stellen, die jeweils unterschiedliche Lebensbereiche darstellen konnten. Themen waren zum Beispiel Seidenproduktion, Lochstickerei oder Teppichweberei.

Von der Inneneinrichtung der Häuser im Dorf um 1900 und später konnten wir einen Eindruck vermitteln mit Hilfe von Dekorationsgegenständen, Geschirr und Kochuntensilien.

Es gab genug Objekte, die den Status der sehr wohlhabenden Familie Karagianopoulou auf der einen Seite und die bäuerlichen Lebenszusammenhänge der Bewohner des Dorfs auf der anderen Seite als Kontrast dokumentieren konnten. Für erstere eigneten sich die höchst eleganten Seidenkleider der Damen der Familie im Stil der Pariser Belle Époque, für die Frauen des Dorfs konnten wir selbst geschneiderte Jacken und eine Pelerine zeigen, die auf ihre Weise nicht minder hübsch war als die Seidenkleider.

Zur Darstellung des Lebensbereichs der Männer der Archonten-Familie eignete sich die schon vorhandene Bibliothek mit einigen hundert Büchern.

Die landwirtschaftlichen Großgeräte der Dorfbewohner jedoch mussten wir zunächst aus Platzmangel aussortieren und in einer Abstellkammer des Gebäudes unterbringen.

Ein Thema, das sowohl die so unterschiedlichen Welten der Archontenfamilie als auch das der „einfachen“ Dorfbewohner betraf, war das Thema „Kommen und Gehen“. Die Mitglieder der Archonten-Familie reisten viel und brachten Souvenirs aus aller Welt mit. Unter anderem aus Madagaskar.

Auf Bast gedrucktes Krokodil aus Madagaskar
Auch die männlichen Mitglieder der Bauern- und Schäferfamilien des Dorfs „reisten“. Einige fuhren als Matrosen zur See (es gab auch den einen oder anderen Kapitän im Dorf), was wir mit einer Seemannskiste zeigen konnten, andere emigrierten – mit und ohne ihre Familie – in die Amerikas, nach Australien oder gingen als „Gastarbeiter“ nach Europa. Und alle kamen von Zeit zu Zeit oder – im Alter endgültig – wieder zurück ins Dorf. Auch viele von denen, die dauerhaft einen Wohnsitz in Athen oder Thessaloniki hatten. Zu diesem Thema „Kommen und Gehen“ entstand schließlich auch ein Diorama, das den „Abschied“ thematisierte.


Diorama „Kommen und Gehen“: Abschied im Dorf
Bei diesem Diorama orientierten wir uns an Orhan Pamuks „Museum der Unschuld“ in Istanbul. Auch das Buch von Neil MacGregor eine „Geschichte der Welt in 100 Objekten“ inspirierte uns, mit den Objekten Geschichten zu erzählen, die das Dorf und seine Lebensbedingungen kulturhistorisch lebendig werden ließen.
Ein weiterer Sammlungsbereich war der von sakralen Objekten, die in der Kirche eine Funktion im Gottesdienst hatten, wegen „Altersschwäche“ aber nicht mehr verwendet werden konnten und durch neue ersetzt werden mussten. Sakrale Gegenstände können nicht einfach entsorgt werden und gelangten in die Sammlung im Sinne eines Aufbewahrungsorts. Darunter sind auch Drucke von Heiligenbildern aus Massenproduktionen, die gleichwohl als geweihte Ikonen ihren Platz in den Hausaltären ärmerer Familien hatten.

Kästchen für Oblaten, Fläschchen für heiliges Öl, Kerzenhalter
All diese Objekte bildeten schließlich einen Mikrokosmos des Dorflebens der letzten hundert Jahre mit all seinen Facetten. Sie zeugen sowohl vom Leben der Familien, die ihr Auskommen als Schäfer, Bauern und Viehzüchter, Handwerker, Seefahrer oder Händler hatten, als auch das der ausgesprochen wohlhabenden kosmopolitischen Familie Karagianopoulou.
„Knapp bei Kasse“ – Improvisieren ist angesagt
Ziel unseres Aufenthalts 2018 war, erste Themenensembles aufzubauen. Allerdings hatten wir für die Gestaltung der Ausstellung kein Budget zur Verfügung. Pater Simeon bemühte sich zwar – wie er sagte – um eine Finanzierung durch die Kirche, war bislang aber erfolglos geblieben. Er sorgte jedoch dafür, dass wir notwendige Materialien bekamen, die für den Aufbau unmittelbar gebraucht wurden. Auch Meni vom Kafeneion unterstützte unsere Arbeit mit kleineren Geldbeträgen oder lieh uns Dinge wie Wischmopp und Eimer, Bügelbrett und Bügeleisen und was wir sonst noch brauchten. Ohne ausreichende Finanzierung mussten wir bei allen Aufbauten improvisieren. Da es uns aber zunächst darum ging auszuprobieren, wie unsere Konzeption vor Ort in der Innenarchitektur des Hauses wirkte, welche Möglichkeiten der Gestaltung die bauliche Substanz des Hauses hergab und wie die bisherige Einrichtung (alte Vitrinen aus den 1960er Jahren) in unser Konzept einfließen konnte, war die Improvisation kein vorherrschendes Problem. Denn – und das war das Wichtigste – die Dorfbewohner sollten zunächst nur sehen können, welche Art Ausstellung wir planten. Unsere Hoffnung war, dadurch mehr Dorfbewohner in die Gestaltung des Museums und der Ausstellung einbeziehen zu können und es leichter würde, Geldgeber für eine richtige Museumseinrichtung zu finden.
Mit unserer Arbeit gelang es immerhin, ein erneutes Interesse des Dorfs an seinem Museum zu wecken. Schließlich war das Museum über 30 Jahre lang geschlossen und vergessen gewesen. Die jetzige Schulleiterin Georgia Kokkinogeni vom Kalfagianneio Gymnasio (Realschule) in Filia hatte jedoch sofort verstanden welchen Schatz das Dorf mit diesem Museum hat und es von Anfang an in den Geschichts- und Heimatkundeunterricht als „außerschulischen Lernort“ eingebunden.

Gerda Kroeber-Wolf mit einer Lehrerin des gymnasio und Schülern
Der „Uhr-Knall“
Dass unser Ausstellungskonzept und die konkreten Ideen, die wir dazu hatten, nicht eins zu eins vor Ort umzusetzen waren, war uns klar. Aber auch dieser reduzierte Teil war vom Arbeitsumfang sehr ambitioniert. Vor allem weil wir sehr schnell merkten, dass die bauliche Realität des alten Hauses sich unseren Gestaltungsbemühungen recht heftig widersetzte. Zum Beispiel ist es ein sehr mühsames Unterfangen Haken an Wänden anzubringen oder Nägel einzuschlagen, die aus Feldsteinen, Lehm und Stroh bestehen!
Es ist Anfang September, noch warm und an den Kaffeehaustischen auf der Plateia vor dem Museum sitzen etliche Männer im Gespräch miteinander.

„Rumms!“ Die Männer verstummen und schauen in die Höhe auf die geöffneten Fenster des Museums, von wo der Schlag zu hören war. Bis dahin ertönten von dort Stimmen und Geräusche der Geschäftigkeit. Jetzt auch dort: plötzliche Stille. Meni, hat den Schlag auch gehört, ist vor die Tür getreten. Jetzt ertönen aus der Villa Gelächter und Stimmengewirr. Die Besucher unten wenden sich wieder ihren Gesprächen und Kaffeetassen zu. War wohl nicht so schlimm. Auch Meni geht wieder hinein.
Oben in der Villa stehen die Damen jetzt um eine alte Wanduhr herum. Sie hat den „Uhr-Knall“ verursacht als sie von der Wand fiel. Der Nagel, an dem sie aufgehangen worden war, steckte nicht fest genug in der Wand. Entweder ein Nagel trifft einen der Feldsteine, mit denen die Wände errichtet wurden, dann krümmt er sich sofort oder er trifft den Zwischenraum aus Lehm und Stroh, dann verschwindet er so schnell in der Wand wie er auch wieder herausrutscht. Letzteres war mit dem Nagel passiert, an dem die Wanduhr aufgehängt worden war. Die Uhr war zum Glück aber nicht weiter beschädigt, wie erleichtert festgestellt wurde.
Die Ausstellungkonzeption
Als die Gruppe begann ein Ausstellungskonzept zu erarbeiten, überlegten wir, welches das „Alleinstellungsmerkmal“ des Museums sein könnte. Fast jedes Dorf auf der Insel hat ein Museum und die Ausstellungskonzeption ist überall die gleiche, nämlich möglichst realistisch eine „Bauernstube“ nachzubilden.

„Bauernstube“ im Heimatmuseum in Pyli auf der Insel Kos
In unserer Sammlung fanden sich aber weder das Mobiliar für eine Bauernstube noch traditionelle Trachtenkleidung. Während unserer ersten Museumsexkursion 2017 hatten wir den Eindruck, dass die Vorstellung von einem Heimatmuseum als wichtiger „Lernort über die eigene Vergangenheit“ wie es in Deutschland geläufig ist, für die Dorfbewohner in Filia recht fremd ist. Diesmal stellten wir jedoch fest, dass es sehr wohl Vorstellungen darüber gab, was ein Museum ist und wie es auszusehen habe: nämlich die besagte „Bauernstube“.
Das Museum sollte so etwas wie die „Gute Stube“ des Dorfs sein. Wie im saloni eines wohlhabenden Bauernhauses, in dem die vorhandenen guten Möbel, Teppiche, Gardinen, das Porzellan versammelt sind und durch eine meist verschlossene Tür geschützt werden. Dieser Raum wurde nur zu besonderen Gelegenheiten (Familien- und jahreszeitliche Feste und bei Besuch besonderer Personen) genutzt und betreten. So ähnlich sollten auch die schönen alten Sachen, die die Dorfbewohner dem Museum gegeben hatten, sicher verwahrt werden.
Versehrtheit der Objekte
Die wenigsten Objekte unserer Sammlung waren Spitzenstücke – unversehrt und von höchster handwerklicher Qualität. Fast alle trugen deutliche Gebrauchsspuren, oder waren gar sichtbar kaputt wie die Kameras und technischen Geräte der Männer der Archonten-Familie. Aber genau diese Versehrtheit gab ihnen Authentizität, machte sie zu Überbringern der Lebenswelt um 1900 und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie hatten – sichtbar – die vergangene Zeit des Dorfs erlebt. Zusammen mit den Räumen des alten, nur oberflächlich instand und sauber gehaltenen Gebäudes konnte eine Atmosphäre erahnt werden, die Besucher auf ähnliche Weise faszinierte, wie die in den sogenannten „lost places“ in Deutschland und anderswo (alte, dem Verfall preisgegebene Fabrikhallen, Sanatorien oder Herrenhäuser), die von Fotografen der Atmosphäre wegen, verbotenerweise immer wieder aufgesucht werden.

Uhr mit Stunden- und Tagesanzeige
Archonten und Dorfbevölkerung
Der Schwerpunkt unserer Ausstellungskonzeption sollte die Gegenüberstellung der bäuerlichen Lebenswelt in Filia mit der Lebenswelt der Lehnsherren der Familie Karagiannopoulou sein. Diese lebte zwar in Filia, aber ihr Lebensstil war der der reichen, gebildeten und eleganten Oberschicht Europas. Sie hatten Kontakt und Austausch mit Ihresgleichen, vor allem auch mit den kosmopolitischen Levantinern im osmanischen Smyrna (Izmir), zu deren regionalen Einzugsbereich auch die ostägäischen Inseln (Chios, Lesbos und Limnos) gehörten. Der Reichtum der Archonten-Familie beruhte auf der Arbeit bzw. den ihr geschuldeten Steuern der Dorfbewohner, die als Handwerker und Hausangestellte auch direkten Kontakt mit der Familie hatten. Zugleich aber war die Archonten-Familie zuständig für die sozialen Strukturen des Dorfs. Der Großvater des letzten Archonten zum Beispiel ließ auf seine Kosten die erste Schule in Filia errichten (heute das gymnasio) und übernahm auch die Kosten für die Lehrergehälter.
Schließlich sollte auch die Geschichte des Gebäudes mit Hilfe von Wandtexten in die Ausstellung mit einfließen. Ende des 19. Jahrhunderts war es eine Art Kontor gewesen für die Geschäfte der Archonten. Zwischen den beiden Weltkriegen wurde es als „Hotel“ mit Gaststätte genutzt. Im Zweiten Weltkrieg besetzte die Deutsche Wehrmacht das Gebäude, im nachfolgenden Bürgerkrieg in Griechenland wurde eine Polizeistation dort eingerichtet, mit Arrestzellen, in denen auch gefoltert wurde.
Dritter Aufenthalt
Ensembles
2019, bei unserem dritten Aufenthalt, konnten wir die improvisierte Dauerausstellung fertig stellen. Die beiden kleinen Räume gestalteten wir als „Herrenzimmer“ und „Damenzimmer“ mit Objekten der Familie Karagianopoulou. Der große Raum mit seinen Vitrinen wurde Vitrine für Vitrine mit unterschiedlichen Themen bestückt, ebenso der den ganzen oberen Bereich des Gebäudes durchziehenden Flur.
Herrenzimmer
Im Herrenzimmer gestalteten wir neben der die ganze Wand ausfüllenden Bibliothek eine andere Wand mit gerahmten Drucken von Bildern antiker Szenen (Gemälde des britischen Malers Gavin Hamilton (1723 – 1798), Begründer der englischen „Neoklassik“ und bürgerlichen (Salon-)Malerei). Und eine dritte Wand mit Postkarten von Fotomotiven aus der Zeit um 1900 auf der Insel, und einer alten Militärjacke samt Gewehr. Dazu kamen Fotoapparat und Zubehör und ein um 1900 moderner, üppig gestalteter Petroleumofen.

Antike Szene, Damen und Herren der Oberschicht der Insel
Damenzimmer
Das „Damenzimmer“ beherbergt nun die Sammlung beeindruckender Seidenkleider, geschneidert nach der Pariser Mode um 1900 und die aus feinem Leinen mit handgearbeiteter Lochstickerei versehener Damenunterwäsche. Kleider und Unterwäsche zogen wir auf Kleiderpuppen und stellten sie in lockerem Rund auf. Versehen mit Wandspiegeln und Sonnenschirmchen entsteht eine Atmosphäre von Weiblichkeit, wie sie nur im Gegenüber gesellschaftlicher dominanter Männlichkeit zu finden ist.

Leinene Damenunterwäsche mit handgearbeiteter Lochstickerei, Seidenkleider
Das ehemalige Kontor
Viel Kopfzerbrechen bereitete uns die Gestaltung des „Großen Raums“. Er war einst eine Art Kontor, der repräsentative Geschäftsraum des Archonten, mit acht großen Fenstern in drei Himmelsrichtungen. Die dort vorhandenen Vitrinen aus den 60er Jahren – Resopal beschichtete Pressspahnplatten in braun, die den Eindruck von, in der damaligen Zeit modernen Küchenunterschränken hervorriefen – sollten entfernt werden um Platz für unsere Themenensembles zu schaffen. Aber der Pope wollte, dass die Vitrinen blieben.

So gestalteten wir jeden Vitrinenabschnitt zu einem eigenen Thema, mit Objekten, die einzeln oder dicht an dicht zusammen Geschichten erzählen konnten. Hier konnten wir Dinge, die die Dorfbewohner in die Sammlung gegeben hatten, zeigen. Ess- und Kochgeschirr aus den dörflichen Haushalten, handgewebte Decken, gestickte Wandbilder, Ikonen und Objekte des Hausaltars.


Porzellan- und Emaille-Geschirr
Oder diese handbestickten Pantoffeln, die der Bräutigam von der Schwiegermutter bekam, um – wie es Brauch war – damit in der Hochzeitsnacht ins Brautgemach zu gehen.

Kirchliche Objekte
Auch die vom Alter gezeichneten Objekte aus kirchlichem Bestand bekamen hier eigene Vitrinen. In einer Vitrine fand eine – wahrscheinlich von einer Dorfbewohnerin „gebastelte“ –Dornenkrone ihren Platz. Sie wurde aus einem Dornenzweig geflochtenen und mit Silberbronze und roter Farbe an den Dornenspitzen angemalt. Zusammen mit einer grob und etwas ungeschickt aus Holz geschnitzten Taube mit nur noch einem Flügel und einem sehr schlichten, verrosteten eisernen Kreuz strahlen diese Objekte eine Aura des Heiligen aus, die in ihrer naiven Einfachheit mehr über die Bedeutung des Glaubens im Dorf vermitteln können als die großen professionell gestalteten Kirchen der Orthodoxie.

Sehr restaurierungsbedürftiges Tabernakel, sakrale Öllampe
Der lange Flur
Die Wände des langen Flurs schließlich, der sich über die Hälfte des Hauses erstreckt, sind Themen vorbehalten, die sich auf die Geschichte der Familie Karagianopoulou, des Gebäudes und des Dorfes beziehen. Hier wird die Familie Karagiannopoulou mit einem Stammbaum vorgestellt, der als Mobile gestaltet ist und vor der Wand hängt, an der einige wenige Familienfotos, die aus der Zeit Ende des 19. Jahrhunderts stammen, zu sehen sind. Ob Mitglieder der Familie Karagianopoulou auf den im Museum vorhandenen Portrait-Fotografien zu sehen sind, konnten wir allerdings nicht herausfinden.

Mobile des Stammbaums der Familie Karagiannopoulou
„Kommen und Gehen“
Ein weiterer Bereich im Flur trägt den Titel „Kommen und Gehen“. Dort wird mit einer alten Seemannskiste, Souvenirs aus aller Welt und einer Weltkarte, auf der die Aufenthaltsorte von Menschen aus Filia eingezeichnet sind, gezeigt wie sehr das Dorf mit der Welt außerhalb der Insel verbunden ist. Griechen als Händler und Seefahrer waren schon immer in aller Welt anzutreffen. Aber auch die Bewohner Filias als Bauern und Viehzüchter sind – soweit reicht das geschichtliche Gedächtnis im Dorf – schon seit Ende des 19. Jahrhunderts in alle Welt gewandert. In die USA, nach Venezuela, Kanada, Australien, Tasmanien, und zu finden sind sie auch überall in Europa. Bis heute kommen sie immer wieder zurück ins Dorf, zu Besuch oder um ihren Lebensabend hier zu verbringen. Auch die, die ihr Leben der Arbeit wegen in Athen oder Thessaloniki verbringen, haben noch ein Haus im Dorf und werden im Sommer wieder Einwohner Filias. Das bedeutet, dass die Familien ein enges Verwandtschaftsnetz über die halbe Welt gespannt haben, dass die zurückgekehrten Familienmitglieder meist noch eine Sprache außer Griechisch sprechen und dass diesem scheinbar außerhalb der modernen Welt liegenden Bergdorf tatsächlich aber eine bemerkenswerte Weltoffenheit eigen ist.
Im Flur konnten wir schließlich auch einige der vielen handgewebten Teppiche in einer neu in Auftrag gegebenen Wandvitrine unterbringen, die der Dorfschreiner hergestellt hatte. Um ihn bezahlen zu können, hatte die Gruppe in Deutschland bei Freunden und Bekannten Spenden gesammelt.

Die Aura der Räume
Als alle Vitrinen bestückt waren, wurde plötzlich deutlich, dass auch der Raum als solcher eine Aura ausstrahlte. Die alten, vom damaligen Dorfschreiner gefertigten Vitrinen, stehen im Kontrast zum ehemals sehr repräsentativen Raum. Zusammen mit den Spahnplatten an der Zimmerdecke, die die einst mit Stuck versehene Decke funktional und sehr schlicht ersetzen, wird die ehemals wohlproportionierte Ästhetik aufgebrochen.
Dieses Nebeneinander von einst herrschaftlicher Ästhetik und den in den 60er Jahren noch begrenzten Möglichkeiten von Material und Technik der Handwerker im Dorf, dieses Zusammenfallen von arm und reich – wobei „arm“ nur relativ auf dem Hintergrund der reichen Archontenfamilie erscheint – verdeutlichen das Lebensgefühl der Menschen in Filia bis Mitte des letzten Jahrhunderts. Es sind nicht nur die Objekte, es sind auch die Räume des Hauses, die als Semiophoren das jetzt Unsichtbare dieser Zeit erlebbar machen, die die Fantasie und Erinnerungen der Besucher wecken können.

Petroleum-Lampe und Neonleuchte, an der Zimmerdecke aus Spahnplatten
Das Dorf wird immer wieder von Touristen aus der Türkei besucht. Oft sind es die Nachfahren der Muslime, die bis 1920 seit Generationen im Dorf lebten. Sie wurden nach dem griechisch-türkischen Krieg in die Türkei vertrieben und die in der Türkei ansässigen Griechen nach Griechenland. Dieser Bevölkerungsaustausch war in den Friedensverhandlungen festgelegt worden. Und heute sind es die Enkel der Vertriebenen, die nach Filia kommen, um zu sehen wie ihre Vorfahren hier gelebt haben. Im Museum sind sie fasziniert und manche zu Tränen gerührt von der Atmosphäre, die das alte Haus und die vielen alltäglichen Gegenstände darin ausstrahlen.
Das „geklaute“ Hochzeitskleid
Bevor die Gruppe zum dritten Mal nach Filia kam war das Gerücht vom geklauten Hochzeitskleid entstanden. Ein besonders schönes Seidenkleid in beige, mit durchscheinenden Spitzen und leicht asiatisch anmutendem Schnitt aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert hatte Pater Simeon der Gruppe als „Hochzeitskleid“ gezeigt. Nach ausführlichen Recherchen im Internet waren wir aber im Zweifel, ob es nicht eher ein Kleid für festlichen Anlässe aus der Karagianopoulou-Familie war, und dass es vermutlich in Smyrna gearbeitet wurde, vielleicht nach einem Pariser Schnittmuster. Denn Smyrna war Ende des 19. Jahrhunderts das Modezentrum der ganzen Region, sowohl auf dem türkischen Festland als auch auf der Insel. Wenn das beige Kleid also kein Hochzeitskleid ist, wo ist dann das Hochzeitskleid geblieben? Diese Frage machte plötzlich die Runde im Dorf. Und die Antwort lag nicht fern: Das müssen die Deutschen geklaut haben! Und der Pope hat nicht gut aufgepasst!


In Deutschland berichtete ich meinen Studierenden vom „geklauten Brautkleid“, woraufhin alle in Schockstarre verfielen. Ulla meinte:
„Nein, also wenn ich bezichtigt werde gestohlen zu haben, will ich da nicht mehr hinfahren!“ Das fanden die anderen dann auch, trotz meiner Hinweise, dass wir auf dieses Geschwätz selbstverständlich nicht eingehen sollten. Aber immerhin hatte dieses Gerede im Dorf bewirkt, dass das Museum nun in aller Munde war. Das hatte sich die Gruppe bei jedem Aufenthalt gewünscht, allerdings im positiven Sinne.
Am Ende des dritten Aufenthalts der Gruppe war die improvisierte Ausstellung fertig aufgebaut und wir luden die Dorfbewohner ein, das Museum zu besuchen. Besonders erfreut waren die Besucher, wenn sie Objekte entdeckten, die aus ihrer eigenen Familie stammten. Geschirr, besondere alte Haushaltsgegenstände oder handgearbeitete Textilien und Decken. Großer Aufmerksamkeit erfreute sich auch die Wand mit Fotos vom Dorf und seinen Bewohnern, die die Gruppe während ihres Aufenthalts aufgenommen hatte.

Als Kostas. der pensionierte Taxifahrer, sein altes Taxi auf einem von uns vergrößerten Foto an der Wand im Flur sah, sagte er hocherfreut zu mir: „Schau mal mein altes Taxi, damit habe ich auch dich immer zum Flughafen gefahren!“ So und so ähnlich entwickelte sich eine neue Beziehung der Dorfbewohner zu ihrem Museum.
